Der aktuelle Forschungsstand zur Care-Ökonomie in der Schweiz

Ein Praxisprojekt der Fachhochschule St. Gallen im Auftrag des Vereins WiC
WiC-Blogpost Nummer 15

Seit dem Jahr 2005 bietet die Fachhochschule St. Gallen Organisationen und Institutionen aus der Region die Möglichkeit, „Praxisprojekte“ zu beantragen. In diesen Projekten arbeiten Studierende einzeln oder in Gruppen mehrere Monate lang kompetent begleitet zu einer alltagsnahen realen Fragestellung, die von außen an die Hochschule herangetragen wird. Unzählige Unternehmen, soziale Institutionen, Ämter und zivilgesellschaftliche Initiativen haben schon von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht…

Wie, wo und von wem wird Care-Arbeit erforscht?

…Auch der Verein Wirtschaft-ist-Care hat im Jahr 2017 diese Chance zur vertieften Auseinandersetzung mit einer Fragestellung, die für seine Arbeit grundlegend ist, genutzt. Wir wollten wissen: Wie, wo und von wem wird Care-Arbeit in der Schweiz erforscht? Also einerseits die vom Bundesamt für Statistik im „Modul unbezahlte Arbeit“ ausgewiesene Hälfte des gesamten Arbeitsvolumens, die in Privathaushalten gratis geleistet wird, und andererseits die unterbezahlten haushaltsnahen Dienstleistungen in den Sektoren Hauswirtschaft, Pflege und Erziehung? Wie ist der aktuelle Forschungsstand? Wo liegen die Schwerpunkte, wo gibt es Lücken?

Ein entsprechendes Projekt wurde im Herbst 2016 eingereicht, im Januar 2017 von der Fachstelle Praxisprojekte bewilligt und von April bis August 2017 von fünf Studierenden bearbeitet: Am 28. August 2017 haben Anette Müller, Fabio Colombo, Kim Peterli, Mischa Landis und Nina Mugwyler in Anwesenheit ihres wissenschaftlichen Betreuers Matthias Weber und der WiC-Mitfrauen Gaby Belz, Ina Praetorius und Martha Beéry ihre Studie in St.Gallen vorgestellt.

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Ergebnis: Unbezahlte Forschung zur unbezahlten Arbeit?

Die Studierenden sind zu folgenden Ergebnissen gekommen:
Erstens: Es wird zu Care geforscht, aber fast nur in den Sozialwissenschaften, kaum in den Wirtschaftswissenschaften. Die vom Bundesamt für Statistik seit 1997 erhobenen Daten zur unbezahlten Arbeit werden in den Wirtschaftswissenschaften bis heute kaum wahrgenommen.
Zweitens: Es besteht eine deutliche Tendenz, Care an randständige akademische Bereiche wie Arbeitspsychologie, Gender Studies, Migrationsforschung oder Sozialarbeit zu delegieren.
Drittens: In der im engeren Sinne wirtschaftswissenschaftlichen Forschung waren im beforschten Zeitraum in der deutschsprachigen Schweiz zwei Pionierinnen besonders aktiv: Mascha Madörin und Ulrike Knobloch. Die auf makroökonomische Fragen spezialisierte Wirtschaftswissenschaftlerin Mascha Madörin leistet ihre umfangreiche Forschungs- und Bildungsarbeit seit Jahrzehnten außerhalb des akademischen Betriebs; die Wirtschaftsethikerin Ulrike Knobloch war lange an einem Fachbereich für Sozialarbeit tätig und ist seit 2016 Professorin an einer deutschen Universität.
Viertens: Care-Arbeit wird überproportional von Frauen erforscht, oft unbezahlt, oft außerhalb des universitären Betriebs, im Rahmen von NGOs oder in prekären freien Initiativen.
Fünftens: Es gibt in der Schweizer Forschungslandschaft keinen systematischen Ort für die Care-Forschung, wenig Koordination und noch kein Kompetenzzentrum.
Sechstens: Was die Vergabe von Forschungsgeldern angeht, empfehlen die Studierenden genaueres Nachforschen und –fragen. Wichtige Folgefragen wären: Welche Geldgeber haben (kein) Interesse an der Erforschung un- und unterbezahlter Care-Arbeit? Warum? Welche Forschungsprojekte sind in den vergangenen Jahren an fehlender finanzieller Unterstützung gescheitert?
Siebtens: Es wird schwerpunktmäßig zur unterbezahlten, kaum zur unbezahlten Care-Arbeit geforscht.
Achtens: Eine ausführliche Publikations- und Projektliste (im Word- und Zitavi-Format) gibt einen Überblick über die Forschungstätigkeit in der Zeit von 2000 bis 2016.

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Wie weiter?

Der Projektbericht „Wirtschaft ist Care. Aktueller Forschungsstand zu Care-Arbeit in der Schweiz“ mit seiner umfangreichen Bibliographie kann als pdf-Dokument beim Verein WiC bezogen werden. Er wird eine wichtige Grundlage für die zukünftige Arbeit von WiC sein. Angedacht ist ein runder Tisch mit Forscherinnen und Forschern, Aktivistinnen und Aktivisten und weiteren Beteiligten zur Frage, wie Forschungsarbeiten zur un- und unterbezahlten Care-Arbeit gefördert, systematisiert und koordiniert und wie ihre Ergebnisse in öffentliche Debatten eingebracht werden können.

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Von links nach rechts: Mischa Landis, Ina Praetorius (WiC), Anette Müller, Gaby Belz (WiC), Fabio Colombo, Kim Peterli. (Nicht auf dem Foto: Nina Mugwyler, Matthias Weber, Martha Beéry-Artho (WiC))