Ökosystemrelevantes braucht Sichtbarkeit

WiC-Blogpost Nummer 61

(Dieser Text wurde geschrieben als Impuls zum Podium „Who cares? Private Sorge- und Pflegearbeit sichtbar machen“ (9. Juni 2023) im Rahmen des 38. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Nürnberg. Er wurde zuerst publiziert auf der Webseite des Kirchentags. Hier publiziere ich eine leicht veränderte und aktualisierte Version.)

Was braucht es, um sachkundig über die noch nicht überwundene Unsichtbarkeit und über das notwendige Sichtbarwerden des größten Wirtschaftssektors sprechen zu können?
Ich werde drei Fragen stellen und beantworten: 
Erstens: Was soll sichtbar werden?
Zweitens: Was bedeutet in diesem Zusammenhang «Sichtbarkeit»?
Drittens: Warum und wozu soll unbezahlte Sorgearbeit sichtbar werden?

Erstens: Was soll sichtbar werden?

Sichtbar werden muss der grösste, der tragende Wirtschaftssektor.
Um wieviel Arbeit es bei der privaten Sorge- und Pflegearbeit geht, darüber wurde inzwischen schon viel gesagt. Ich deute die Frage der Quantitäten hier mit zwei Zitaten nur an. Das erste bezieht sich auf die Zustände in Deutschland, das zweite auf die globale Situation: 

Durch Erhebungen des Statistischen Bundesamts wissen wir: Frauen in Deutschland leisten jährlich 60 Milliarden Stunden – allein an unbezahlter Hausarbeit. Der Geldwert dieser Arbeit, legt man anteilig den Durchschnittslohn einer Hauswirtschafterin, Köchin und Erzieherin zugrunde, würde jährlich etwa 830 Milliarden Euro betragen. Das ist fast so viel wie Bund, Länder und Gemeinden pro Jahr an Ausgaben tätigen. Wenn man zur unbezahlten die meist unterbezahlte Sorgearbeit in Pflegeheimen, Krankenhäusern, Kitas hinzuzählt, ist dieser Bereich der größte Wirtschaftssektor. Leider bildet sich das weder in der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung noch im Bruttoinlandsprodukt ab, das als Wohlstandsmaß eines Landes gilt. (Uta Meier-Gräwe)

Frauen und Mädchen leisten den Löwenanteil unbezahlter Haus-, Pflege- und Fürsorgearbeit – weltweit pro Tag … über 12 Milliarden Stunden. Dies entspricht einem Gegenwert von über 11 Billionen US-Dollar pro Jahr, würden diese auch nur zum Mindestlohn bezahlt; 24mal mehr als der Umsatz der Tech-Riesen Apple, Google und Facebook zusammen. (Oxfam)

Es geht also um viel, um sehr viel un- und unterbezahlte Arbeit. Diese Arbeit subventioniert – weitgehend unsichtbar – das, was sich «die Wirtschaft» nennt, also die kapitalistische Produktion von Gütern und Dienstleistungen.
Um welche Art von Tätigkeiten handelt es sich beim größten Wirtschaftssektor? 
Es geht um Dienstleistungen und Produkte, ohne die kein Mensch leben kann: Wer hätte als Baby ohne die unbezahlte Arbeit ihrer* oder seiner* Betreuungspersonen überlebt?
Es geht um Nähren, Reinigen, Aufräumen, Schützen, Begleiten, Pflegen, Zuhören, Hausaufgaben betreuen, Homeschooling und so weiter. Meist in Privathaushalten, oft auch in Nachbarschaften oder Verwandtschaftsnetzen. 
Es geht um die Herstellung und Instandhaltung von Menschen.
In der Sprache der gängigen Wirtschaftswissenschaft: um die „Reproduktion“ von „Humankapital“. 

Oft höre ich, die Sorge-Arbeit, also das, was wir in internationalen Kontexten heute Care-Work nennen, die sei doch nicht messbar, da gehe es doch um selbstverständliche gegenseitige Hilfeleistung, um Liebe.
Es ist aber, wie (nicht nur) die beiden anfangs zitierten Statements zeigen, Fakt, dass die Haushaltsproduktion längst gemessen wird, weil sie eben Arbeit ist. Sie kostet, wie jede Arbeit, Energie und Zeit. Beides lässt sich messen. Und sie ist sehr ungerecht verteilt: zwischen den Geschlechtern vor allem, aber auch zwischen Klassen und Herkünften.

Wenn bei der Arbeit Liebe mitspielt, dann ist das natürlich umso besser. Liebe darf aber nicht als Argument missbraucht werden, um Arbeit unsichtbar und damit ausbeutbar zu machen. Bis heute wird Care-Arbeit nämlich weitgehend verschwiegen, verharmlost und für den Profit anderer benutzt. 
In der Sprache der Wirtschaftswissenschaft ausgedrückt: Sie wird «externalisiert».
Ganz ähnlich übrigens wie die Leistungen der aussermenschlichen Natur.

Wenn sich jemand dumm stellt, frage ich zurück: Soll ich es «Liebe» nennen, wenn ich für meine Familie das Klo putze oder schwere Einkaufstüten nach hause schleppe?
Und umgekehrt: Machen denn die Leute in gut bezahlten Jobs, zum Beispiel Ärztinnen oder Professoren oder Bankerinnen, ihre Arbeit ohne Liebe? Weil sie Geld dafür bekommen? Wenn das wahr wäre, dann müssten wir darüber reden, was es bedeutet. 

Am 15. Mai 2023 ist im Alter von 92 Jahren eine Pionierin der globalen Care-Ökonomie gestorben: die Sozialwissenschaftlerin Maria Mies.  Maria Mies hat uns damals, in den 1980er Jahren, die Augen geöffnet für das riesige Volumen und die Bedeutung der unbezahlten Arbeit. Das Ganze der Wirtschaft hat sie als einen Eisberg dargestellt, von dem nur die Spitze aus Geldwirtschaft, Kapital und regulärer Lohnarbeit, sichtbar ist. Unter der Wasseroberfläche liegen die vielen Leistungen, ohne die es weder Kapital noch Lohnarbeit gäbe: die Leistungen vor allem von Gratis-Hausarbeiter*innen, von Kleinbäuer*innen in Ex-Kolonien, von unregulierten Arbeitskräften und der Natur.

Zusammengefasst heisst die Antwort auf meine erste Frage:
Sichtbar werden muss die unverzichtbare Basis jeder Volkswirtschaft: die Haushaltsproduktion, die unbezahlte Care-Arbeit, samt ihrem Umfeld, der unterbezahlten Care-Arbeit. Das, was wir spätestens in der COVID19-Pandemie als systemrelevante Arbeit zu erkennen gelernt haben.

Zweitens: Was heisst «Sichtbarkeit»?

Zu dieser Frage erzähle ich eine von vielen vergleichbaren Geschichten, die ich in den vergangenen Jahren selbst erlebt habe:
Am 21. August 2021 habe ich einen Brief an Sebastian Matthes, den erzeitigen Chefredakteur des Handelsblatts geschrieben. Vorher hatte ich ein Jahr lang monatlich Kolumnen fürs Handelsblatt geschrieben. Ich habe Sebastian Matthes vorgeschlagen, in seiner Zeitung eine neue ständige Rubrik einzurichten, die Das Ganze der Wirtschaft heisst. Ich zitiere aus diesem Brief:

In dieser neuen Rubrik werden sich Fachleute unterschiedlicher Disziplinen und Berufsgattungen zu aktuellen Ereignissen, zu Forschungsvorhaben und – resultaten, zu Fortschritten der Politik und der Erwerbswirtschaft bei der Integration des größten Sektors ins gemeinsame Wirtschaften äußern.

Am 17. November, am 8. Dezember 2021 und mehrfach per Twitter habe ich nachgefragt, ob der Brief angekommen sei und ob ich wohl eine Antwort bekommen werde. Bis heute, inzwischen mehr als zwei Jahre lang, habe ich nichts von Sebastian Matthes gehört. Und bis heute gibt es keine ständige Rubrik Das Ganze der Wirtschaft im Handelsblatt. 

Was lässt sich aus dieser Geschichte zur Frage der Sichtbarkeit von Sorgearbeit lernen?
Erstens: Wir sind heute glücklicherweise nicht mehr an dem Punkt, an dem es um Sichtbarkeit an sich geht. Sorgearbeit ist ja nicht immer und überall unsichtbar. Zum Beispiel sehe ich, wenn mein Mann den Müll entsorgt. Und in feministischen Medien ist die unbezahlte Arbeit schon lange sichtbar, verstärkt seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts. Heute geht es darum, das Ganze der Wirtschaft dort sichtbar zu machen wo die Macht sitzt: in Regierungen, Parlamenten, Gewerkschaften, in der ökonomischen Wissenschaft, in Lehrbüchern, im Bruttoinlandsprodukt und eben: im Handelsblatt, in ARD und ZDF und anderen sogenannt «grossen» Medien. Diese Art Sichtbarkeit zu erreichen ist schwierig, obwohl die Notwendigkeit dieser Neuerung auf der Hand liegt.
Zweitens: Sichtbarkeit zielt auf Veränderung. Wenn ich vorschlage, dass die unbezahlte Arbeit in volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen beziffert wird, dann geht es darum, den Blick gemeinsam öffentlich auf das zu richten, was unser Zusammenleben trägt und ermöglicht. Wozu? Damit das Zusammenleben gerecht und enkeltauglich wird.

Ohne Care-Arbeit gibt es nämlich keine Menschen, also auch keine Fachkräfte und keine Konsument*innen. Und ohne Menschen braucht es keine Wirtschaft. Das Systemrelevante, genauer: das Ökosystemrelevante muss dorthin gerückt werden, wo es hingehört: in die Mitte. Und dann müssen wir das Ganze, also unser globales Zusammenleben, entsprechend neu einrichten. Wie das geht, darüber braucht es jetzt ausführliche sachkundige transdisziplinäre grenzüberschreitende Gespräche.

Drittens: Warum und wozu also muss Care sichtbar werden?

In Deutschland gibt es seit 2014 ein Netzwerk, das sich Care-Revolution nennt.
Ich selber bin seit 2015 in der Schweiz mit einer postpatriarchalen Denk- und Handlungswerkstatt unterwegs. Sie heisst Wirtschaft ist Care. In Österreich gibt es ein wachsendes Netzwerk FairSorgen!
Mit solchen Namen wollen wir sagen, dass es in der ganzen Weltwirtschaft um nichts anderes geht oder gehen soll als darum, dass wir Menschen füreinander sorgen. 

Im März 2023 ist unser Buch „Wirtschaft neu ausrichten“ zur Vernetzung und Stärkung der Care-Bewegung erschienen. Anfang Juni 2023 haben wir dazu eine Konferenz veranstaltet, bei der es darum ging, dass Leute aus den im Buch vorgestellten Initiativen einander kennenlernen, Synergien bilden und gemeinsam Projekte planen können.

Warum braucht es diese wachsende Care- Bewegung? Eben weil die Sorge für uns selbst, füreinander und für die Welt die Mitte allen Wirtschaftens ist oder wieder werden muss, wenn wir als Menschheit eine Zukunft haben wollen. Wir nehmen wieder wahr, dass wir alle voneinander und von der Natur abhängig sind. Weil wir keine unabhängigen homines oeconomici und weil wir selbst Natur sind. Und wir erkennen, dass wir frei sind, unser Leben auf dem Planeten Erde entsprechend einzurichten. Das ist überlebenswichtig. Ökologische und Care-zentrierte politische Ökonomie sind zwei Seiten derselben Medaille.

Die Religionen übrigens, auch das Christ*innentum, haben nie geleugnet, dass Menschen abhängig sind und deshalb füreinander sorgen müssen. Damit unterscheiden sie sich positiv vom dominanten modernen Leit- und Wunschbild des «unabhängigen» Machers.

Die so genannt «grossen», die patriarchal konstruierten Religionen haben allerdings menschliches Angewiesensein eigenartig konzipiert: nämlich als Abhängigkeit von einem Herrn und Vater, Schöpfer und König, der irgendwo oben sitzt und seine Geschöpfe nach Belieben straft, züchtigt oder liebt.

Meiner Erfahrung nach liebt es die Mehrheit der Kirchenleute und religiösen Autoritäten, so zu tun, als gebe es zu dieser theokratischen – oder autokratischen – Weltsicht keine Alternative.
Es gibt aber eine:
In den religiösen Traditionen finden sich nämlich auch viele Anknüpfungspunkte für ein anderes, ein demokratie- und zukunftsfähiges, ein nicht patriarchales Verständnis von gegenseitiger Abhängigkeit in Freiheit. An diese Traditionen können und sollten wir anknüpfen. Vielleicht würden postpatriarchal neu interpretierte religiöse Traditionen und Institutionen dann sogar ökosystemrelevant.

Und übrigens: Am 29. Oktober ist International Day of Care and Support! Erstmals wird dieser von der UNO eingesetzte Tag im Jahr 2023 weltweit begangen.