Auf dem kachetischen Tomatenfeld oder: Wirtschaft ist Care

Siebzehntes Gespräch über das bedingungslose Grundeinkommen – und mehr

Beate Fehle: Du warst drei Wochen weg, im äussersten Osten Europas, in Georgien. Inzwischen hat die Tagesschau bekanntgegeben, dass die Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen ihr Ziel erreicht hat: Mehr als 100.000 beglaubigte Unterschriften sind beisammen. Die Initiative wird am 4. Oktober 2013 in Bundesbern eingereicht. Wie geht es dir?

Ina Praetorius: Mir geht es gut. Obwohl ich wieder einmal tausend Dinge auf einmal tun möchte. Am liebsten würde ich jetzt gleich ein ganzes Buch über ein bestimmtes Gefühl schreiben, das mich auf einem verwahrlosten Tomatenfeld im kachetischen Dorf Gremi überfallen hat: Als promovierte Theologin und postpatriarchale Denkerin stand ich da und wusste, dass man es besser machen könnte. Aber ich wusste nicht, wie. Ich habe keine Ahnung von Tomatenanbau. Dreizehn Jahre lang habe ich ein humanistisches Gymnasium besucht, neun Jahre lang an Universitäten studiert und gearbeitet, aber mir fehlt das geerdete Wissen. Zum Glück ist gerade ein wunderbarer Text über postpatriarchale Bildung erschienen, in dem vieles von dem, was ich in diesem Buch über dieses bestimmte hilflose Gefühl schreiben würde, schon steht…

Beate Fehle: Hat dieses Empfinden, die falschen Dinge gelernt zu haben, etwas mit dem bedingungslosen Grundeinkommen zu tun?

Ina Praetorius: Ja. Irene Varga sagt im sechzehnten BGE-Gespräch: „Für mich ist es ein langfristiges, generationenübergreifendes Projekt, eine Gesellschaft zu schaffen, die reif ist fürs Grundeinkommen.“ Auch mir wird immer deutlicher, dass das bedingungslose Grundeinkommen nur Sinn macht im Kontext eines neu gedachten Verständnisses der menschlichen Existenz – und damit zentraler Begriffe wie „Wirtschaft“, „Politik“, „Arbeit“, „Bildung“, „Wissen“ und so weiter. Auf dem kachetischen Tomatenfeld ist mir wieder einmal klar geworden, dass das Neu-Denken von neuen Praxen begleitet sein muss: von  anderen Bildungsinhalten, alltäglich gelebter Dankbarkeit, einem sorgfältigeren Umgang miteinander. – Anders als Irene freue ich mich allerdings trotzdem, dass die Schweizer Volksinitiative zustande kommt. Ich verstehe zwar ihre Kritik an den starken neoliberalen Tendenzen in der aktuellen BGE-Debatte und auch ihr Anliegen, „zuerst“ die richtige Gesellschaft zu schaffen und erst „dann“ das Grundeinkommen einzuführen. Aber ich selber glaube nicht an ein geordnetes Nacheinander in der politischen Geschichte, sondern an kreative Ungleichzeitigkeiten. Um deine Frage noch konkreter zu beantworten: ja, ich meine, dass viele Menschen mehr geerdetes, beziehungshaftes Wissen, bessere praktische Theorie oder theoretische Praxis brauchen, um mit dem Grundeinkommen gut umgehen zu können.

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Beate Fehle: Wie meinst du das?

Ina Praetorius: Ein aktuelles Beispiel: Gestern diskutierten im „Club“ des Schweizer Fernsehens sechs sehr kompetente Frauen über Care-Arbeit, und zwar am Beispiel der Osteuropäerinnen, die in der Schweiz – und in anderen Ländern Westeuropas – alte Menschen in ihren Wohnungen betreuen, oft sehr schlecht bezahlt, nicht abgesichert, manchmal sogar illegal. Diese Diskussion war ein guter Anfang. Schliesslich warten wir schon lange darauf, dass im TV endlich qualifizierte Frauen zu diesem Thema zu Wort kommen. Vielleicht war dieser „Club“ sogar eine indirekte Folge von Martha Beéry-Arthos erfolgreiche Beschwerde gegen die unsachgemässe BGE-Arena. – Aber die Diskutantinnen sind vorerst dabei stehen geblieben, das Dilemma zu beschreiben: Rund-um-die-Uhr-Pflege zu den hierzulande üblichen Löhnen ist unbezahlbar. Deshalb lassen Frauen, die zwar oft hochqualifiziert, aber nicht pflegerisch ausgebildet sind, ihre Familien – oft die eigenen alten Eltern – im Stich, um zu einem Lohn, der ihnen angemessen erscheint, weil er erheblich höher ist als der im eigenen Land, unter prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen „unsere“ Alten zu versorgen. Und nun? Was schliessen wir daraus? Wo liegen die Ursachen solcher Verwerfungen? – Ich meine, sie liegen letztlich darin, dass wir mit einer verkehrten Idee unserer menschlichen Existenz und entsprechend von zentralen Begriffen wie „Wirtschaft“, „Arbeit“, „Freiheit“, „Sinn“ etc. leben: In den Supermärkten türmen sich die unnötigen Waren, Topmanager verdienen Millionen, im TV werden Anti-Aging-Cremes, Offroader und Finanzprodukte angepriesen, als hinge unser Glück vom Besitz solcher Dinge ab. Und gleichzeitig können (oder wollen) es sich immer weniger Leute leisten, die eigenen Angehörigen gut zu versorgen. Und diese Tatsache betrifft nicht nur „die Schwachen“, sondern letztlich alle, denn die meisten Menschen hierzulande werden alt und pflegebedürftig. Was es deshalb braucht, ist ein Verständnis der menschlichen Existenz, das die Fürsorgeabhängigkeit aller – und damit die vermeintlich randständigen oder gar als „ausserökonomisch“ wahrgenommenen fürsorglichen Tätigkeiten in der Pflege ebenso wie in der Landwirtschaft, in Haushalten oder im Bildungswesen – ins Zentrum der Ökonomie und anderer Diskurse rückt. Ohne das grundlegende Bewusstsein, dass wir alle voneinander und von Fürsorgetätigkeiten abhängig sind, kann das Projekt Grundeinkommen nicht gelingen. Solange wir noch an der Idee hängen, es gebe „höhere“ Formen von Leben und Sinn – „freie“ Kunst, „freie“ Wissenschaft, „freien“ Markt und so weiter –, solange wir die vermeintlich „niedrigen“ Tätigkeiten verdrängen, auslagern, in die Unsichtbarkeit und Prekarität verbannen, sind wir als  Gesellschaft noch nicht bereit fürs Grundeinkommen.

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Beate Fehle: Was müsste geschehen?

Ina Praetorius: Die Diskussion im „Club“ war ein guter Anfang, aber die zentralen Fragen sind noch nicht auf dem Tisch. Ich versuche ja nun seit dem März dieses Jahres, die „grossen“ Schweizer Medien dazu zu bewegen, öffentlich über den epochalen UBI-Entscheid nachzudenken, demzufolge eine unzureichende Darstellung der Geschlechterdifferenz – und damit der Care-Thematik und der Geburtlichkeit und Fürsorgeabhängigkeit aller – mangelnde Sachgerechtigkeit bedeutet. Mit diesem Projekt bin ich vorerst grandios gescheitert. Von „Sonntagsblick“, „Sonntagszeitung“, „Bund“, „Tageswoche“, „Berner Zeitung“ (und der deutschen TAZ) habe ich – teilweise trotz mehrfacher Nachfrage – bis heute keine Antwort. Rainer Stadler, der Chef  des Ressorts „Medien“ der NZZ meinte am 20. Juni auf Twitter, er habe „noch ein paar andere berufliche Sorgen zu bewältigen“ (was zweifellos richtig, aber kein Argument ist). Constantin Seibt vom „Tagesanzeiger“ teilte mir schon am 22. Mai auf  Facebook mit, er habe halt „noch ein paar wirklich ernste Dinge im Leben zu tun“, und es sei zwar „berechtigt, dort (in der TV-Arena) mehr Frauen zu fordern“, aber nicht sein Job. Das Missverständnis, es gehe um „mehr Frauen“ scheint vorerst unausrottbar zu sein. Die auf Genderfragen spezialisierte Michèle Binswanger beschränkte sich darauf, ihren Kollegen Seibt in Schutz zu nehmen, in dessen Facebook-Privatsphäre ich mit meinem Anliegen eingedrungen war. Ein anderer auf ökonomische Fragen spezialisierter „Starjournalist“, Daniel Binswanger vom „Magazin“, schrieb am 24. Juni kurz und bündig, er habe „nicht die Absicht, sich zur Grundeinkommensarena zu äussern“. Von Andres Büchi, dem Chefredakteur der Zeitschrift „Der Schweizerische Beobachter“ bekam ich zwar prompte und ausführliche Antworten, aber auch er verstand nicht, dass es weder um „mehr Frauen“ noch um eine neutrale Wiederaufnahme der Grundeinkommensthematik geht. Susan Boos von der Redaktionsleitung der WOZ, schrieb am 9. Juli, sie werde meine „Anregung beim zuständigen Ressort einspeisen“, Andri Rostetter vom St. Galler Tagblatt versprach am 12. Juli, er werde sich „die Sache anschauen“. Seither habe ich nichts mehr von WOZ und Tagblatt gehört. Und so weiter. Die Reihe liesse sich fortsetzen und wird laufend unter dem Twitter Hashtag #BGEBundesgericht dokumentiert. Zum Glück kann man ja im Zeitalter von Socialmedia solche deprimierenden Erfahrungen mit den „grossen“ Medien sportlich oder humoristisch nehmen: Jede Absage, jede Unbedarftheit, jedes Schweigen wird umgehend einer anderen Öffentlichkeit zugeleitet.  Und da steht das dann, sozusagen auf ewig. Sogar die NSA darf es lesen. Das macht grossen Spass. Meine grösste persönliche Freude ist es im Übrigen, dass mich diese ganze Geschichte zur aktiven Twitternutzerin gemacht hat. Das war überfällig.

Beate Fehle: Du hast meine Frage nicht beantwortet: Was müsste geschehen?

Ina Praetorius: Was geschehen müsste? Der postpatriarchale Paradigmenwechsel!

Beate Fehle: Und jetzt verrätst du uns noch, welche 997 anderen Dinge du auch noch gern tun würdest.

Ina Praetorius: Zum Beispiel möchte ich unbedingt die Workshops zu den Themen „Dreckarbeit – eine Spurensuche“ und „Das bedingungslose Grundeinkommen, die Care-Ökonomie – und Frauen, die mehr wissen wollen“ noch besser vorbereiten, die ich an der Denkumenta 2013 anbieten werde. Und dann sollten wir dissidenten BGE-BefürworterInnen uns gemeinsam überlegen, was wir am 4. Oktober in Bern tun wollen. Natürlich möchte ich dringend an meinem Buch „Erbarmen“ weiterschreiben. Ein weiteres Buchprojekt, über das ich noch nichts verrate, befindet sich in der Pipeline. Und mein kleiner Garten will gejätet werden. Ein paar Tomaten werden wir bald ernten können…

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