Wer wider besseres Wissen den Fokus auf BIP-Wachstum einengt, sollte keine weltbewegenden Erkenntnisse erwarten

WiC-Blogpost Nummer 62 zum Jahresgutachten 2023 der deutschen «Wirtschaftsweisen»

Am 8. November 2023 hat der «Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung» in Berlin sein Jahresgutachten 2023 vorgestellt. Ich war online dabei. Wäre ich live im Saal der Bundespressekonferenz gewesen, ich hätte den fünf so genannten Wirtschaftsweisen eine Frage gestellt: Wie stellt ihr euch Deutschland in hundert Jahren vor? Als ein komplett durchindustrialisiertes und durchdigitalisiertes Land in einer Welt aus Volkswirtschaften im hektischen Standortwettbewerb? Oder als ein Land in einer Welt, in der es den Leuten gut geht, weil sie bekommen, was sie brauchen?

Ulrike Malmendier hat in der Pressekonferenz eingeräumt, es gehe «uns Ökonomen» letztlich nicht um «Wachstum um des Wachstums willen», sondern um «Wohlstand … also welfare» (Min. 41ff). Davon ist im Gutachten allerdings wenig zu spüren. Sein Titel lautet: «Wachstumsschwäche überwinden – in die Zukunft investieren». Hätten die Weisen tatsächlich erkannt und anerkannt, dass ein Wirtschaftswachstum, das sich ausschließlich am geldfixierten Bruttoinlandsprodukt misst, nachrangig ist gegenüber welfare, dass also nicht BIP-Wachstum, sondern eine wohnliche Welt Ziel und Zweck allen Wirtschaftens ist, dann hätten sie diese wichtige Einsicht mit einem anderen Framing zum Ausdruck bringen und zumindest in Ansätzen zum Gegenstand ihres Nachdenkens machen können: «Wohlbefinden ermöglichen – in zukunftsfähiges Zusammenleben investieren». 

Im Fokus steht Zweitrangiges statt Erstrangigem 

Der Titel «Wachstumsschwäche überwinden» bezeichnet aber korrekt den Fokus des Gutachtens: Er liegt, getreu dem herkömmlichen Blick der akademischen Wirtschaftswissenschaften, nicht auf einer bewohnbaren Zukunft, sondern auf der quantitativen Zunahme des konkurrenzgetriebenen, erwerbsmäßig organisierten Teils des Wirtschaftens, von der man stillschweigend annimmt, sie führe am Ende in die erwünschte Zukunft, die deshalb als solche nicht näher spezifiziert werden muss.

Ich bin Rentnerin. Als solche befinde ich mich zwar nicht außerhalb des Blickfelds der Weisen, aber als Problemfall an dessen Rand. Denn obwohl ich überaus tätig bin, definiert man mich, ausführlich in den Kapiteln 4 und 5, als unproduktiven Kostenfaktor. Ich führe zwar einen Haushalt, denke nach, schreibe Texte, pflege Beziehungen zu Nachbarinnen, Nachkommen, Freunden, Kolleg*innen, belebe durch ehrenamtliche Tätigkeiten das Gemeinwesen, in dem ich wohne, und treibe im Rahmen des Think Tanks WiC (Wirtschaft ist Care) den notwendigen Paradigmenwechsel in der Ökonomie voran. Nichterwerbsmäßig organisierte Wertschöpfung gilt aber im gesetzten Rahmen BIP-Wachstum pauschal als nichts. Zwar haben inzwischen zahllose Zeitbudgetstudien weltweit ergeben, dass unbezahlte Arbeit zum größten Wirtschaftssektor aggregiert. Zwar findet die Erzeugung des Humanvermögens, an dem das ganze Unternehmen der erwerbsmäßig organisierten so genannten «Wirtschaft» hängt, zu großen Teilen im nichterwerbsmäßig organisierten Sektor Sorge- und Versorgungswirtschaft (Mascha Madörin) statt. Da Gratisarbeitende aber nur indirekt zum BIP-Wachstum und zum Steueraufkommen beitragen, werden sie im Gutachten systematisch nicht als wertschöpfende Subjekte, sondern als armutsgefährdet und Adressat*innen der omnipräsenten «Erwerbsanreize» in den Blick genommen. Das ist der systematische Fehler im Kern der Weltsicht, die den Mainstream der Wirtschaftswissenschaften und damit dieses Jahresgutachten dominiert und die sich pointiert als BIPologie bezeichnen ließe. 

Monika Schnitzer hat in der Pressekonferenz vom 8. November 2023 zwar sachte angedeutet, auch ein ausschließlich am Bruttoinlandsprodukt gemessenes Wachstum lasse sich umorientieren, etwa in Richtung «Dienstleistungen … und Qualitätsverbesserung» (Min. 41). Meint sie damit die längst fälligen, schon unzählige Male von Feminist*innen und Care-Arbeitenden angemahnten Investitionen in personennahe Dienstleistungen, die den unbezahlten Sektor entlasten und damit auf direktem Wege, statt vermittelt über entfesselte Geld-, Arbeits- und Warenmärktewelfare fördern könnten? Öffnet sie zaghaft den Blick für das emsige (öko-)systemrelevante Wirtschaften außerhalb der so genannten «Wirtschaft»? Eine solche Annäherung an «das Außen der kapitalistischen Produktionsweise» findet sich im Gutachten selbst allerdings ebenso wenig wie eigenständige Reflexionen zu Problemlagen wie Pflegenotstand, Pflexit, Care-Migration, unbezahlte Betreuung von Angehörigen u.a., die am Rande des nur vermeintlich unumstrittenen Zentrums aus verarbeitender Industrie und zudienendem Finanzsektor systematisch Wohlstand behindern.

Sechs Kapitel mit zu engem Fokus

Wer durch ein zu kleines Fenster die Welt in Augenschein nimmt, sollte keinen atemberaubenden Weitblick erwarten. Das Gutachten 2023 zeichnet sich deshalb, bei aller vermeintlichen Komplexität, durch eine bemerkenswerte Ideenarmut aus.

Im ersten Kapitel «Konjunkturerholung verzögert sich» wird dem postpandemischen Deutschland ein schlechtes Zeugnis ausgestellt: Die Energiepreise sind hoch, das (Erwerbs-)Arbeitsvolumen sinkt, das Produktivitätswachstum stagniert, die Kapitalmärkte sind schwach und fragmentiert, was technologische Innovationen erschwert, der Finanzierungsbedarf der Gesetzlichen Rentenversicherung steigt, die Armutsgefährdung nimmt zu, das außenwirtschaftliche Umfeld ist «eingetrübt» (4), die geopolitische Situation krisenhaft. Gleichzeitig steht die sozial-ökologische Transformation an. Kurz: Der deutschen Volkswirtschaft geht es schlecht. 
Wie es den Menschen in einer Wirtschaft geht, deren Schrumpfen by desaster sich womöglich durch ökonomischen Sachverstand in ein Schlankerwerden by design verwandeln ließe, erfahre ich nicht. 

Weise, denen es um welfare geht, könnten den scheinbar eindeutig alarmierenden Befunden mehr entgegensetzen als die im zweiten Kapitel «Potenzialwachstum durch Investitionen stärken» erwartbar vorgeschlagenen Rezepte aus Modernisierung, technologischem Fortschritt, Digitalisierung, Einsatz von KI und Robotik, Produktivitätswachstum, Erhöhung des Renteneintrittsalters und den allgegenwärtigen «Erwerbsanreizen». Nirgends aber verlassen sie auch nur ansatzweise den Pfad eines grundsätzlichen Weiter wie bisher, etwa in Richtung auf Fragen wie diese: Ließe sich Wohlstand mehren, indem man reale Produktivitäten, Arbeits- und Fortschrittsformen außerhalb starrer Effizienzkriterien neu bewertet und fördert? Könnten etwa die «arbeitsintensiven» Branchen Gesundheit und Bildung, statt überhaupt nicht oder allenfalls als randständige, fürs BIP-Wachstum zu instrumentalisierende Problemzonen in Erscheinung zu treten, neu als Mitte dessen gesetzt werden, um das es angeblich wirklich geht?

Auch das dritte Kapitel «Kapitalmarkt in Deutschland und der EU: Potenziale besser nutzen» verlässt den einmal eingeschlagenen Pfad an keiner Stelle. Es schlägt Reformen der nationalen und internationalen Kapitalmärkte vor und fordert vor allem institutionelle Anleger und Privathaushalte auf, sich durch Beteiligungen an Aktienmärkten stärker an der Finanzierung des Wachstums zu beteiligen. 
Nicht zufrieden sollen wir also sein, sondern uns «finanzielle Bildung» (193) aneignen und endlich eine wachstumsfördernde «Aktienkultur» (192) entwickeln. 

Im vierten Kapitel «Armutsgefährdung senken, Erwerbsanreize stärken: Reformen im Steuer-Transfer-System» geht es um die Frage, wie sich un-, unter- oder reproduktive Randständige wie ich vor Armut schützen lassen. Hier wird besonders deutlich, dass außermarktliche Wertschöpfung im verengten Fokus des Gutachtens keinen angemessenen systematischen Ort hat: Zwar wird unbezahlte Care-Arbeit immerhin als Belastung und damit Erwerbshindernis erwähnt (268), was wohl als Fortschritt gegenüber früheren noch ignoranteren Texten zu werten ist. Noch nicht in den Fokus gerückt ist aber die Tatsache, dass unbezahlte Sorgetätigkeiten das für jede Erwerbstätigkeit notwendige Humanvermögen allererst bereitstellen, indem Frauen es gebären und noch immer den größten Teil der für das Überleben und Erwachsenwerden der zukünftigen Generation notwendigen Haus-, Betreuungs- und Erziehungsarbeit leisten. Den im strengen Sinne systemrelevanten unbezahlten Teil des größten Wirtschaftssektors Sorge- und Versorgungswirtschaft lediglich als Hindernis auf dem Wachstumspfad zu rahmen, stellt die Wirklichkeit auf den Kopf. Wenn Frauen systematisch als das defizitäre, aufholende Geschlecht erscheinen, das unglücklicherweise teurer staatlicher Unterstützungsmaßnahmen – Kindergeld, außerhäusliche Kinderbetreuung, Reform des Ehegattensplitting etc. – bedarf, um endlich ordnungsgemäß produktiv zu werden, dann wird klar, wie die BIPologie die Mitte zum Rand und den Rand zur Mitte macht. 
Am 10. November 2023 hat mir Achim Truger per TwitterX eine Frage gestellt: «Liest du bitte mal das Verteilungskapitel 4 und schaust, ob du kleine Ansätze (für eine angemessene Thematisierung des größten Sektors, IP) findest oder ob du denkst, es geht völlig in die falsche Richtung?» – Meine Antwort heißt: Care-Arbeit immerhin als ungerecht verteilte Belastung zu erwähnen, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Die wachsende Bewegung für eine Care-zentrierte Ökonomie erwartet aber, dass die Wirtschaftsweisen in ihrem nächsten Gutachten der unabänderlich arbeitsintensiven Erzeugung des Humankapitals als notwendiger Voraussetzung für den Rest der Wirtschaft mindestens ein eigenes Kapitel widmen und darin der irreführenden Annahme, es handle sich dabei um nichts als eine Störung des BIP-Wachstums, die mit noch mehr «Erwerbsanreizen» aus der Welt zu schaffen sei, ein Ende setzen.

Das fünfte Kapitel «Alterungsschub und Rentenreformen» ist wieder ganz auf die Frage ausgelegt, wie sich Menschen möglichst lang im Erwerbsleben halten lassen, um möglichst spät dem Staat durch ihr unproduktives Dasein zur Last zu fallen.

Im sechsten und letzten Kapitel «Zeitgemäße Dateninfrastruktur für fundiertere Entscheidungen» schließlich werden zu Recht Reformen der offiziellen Datenerhebung, -zugänglichkeit und -verknüpfung in Deutschland angemahnt. Bemerkenswert ist hier vor allem die Forderung nach «Informationen über die Vermögensverteilung» (395), die es ermöglichen würden, nicht nur Maßnahmen zur Behebung von Armut, sondern auch die Folgen von (Über-)Reichtum zu diskutieren. Die von der Care-Bewegung seit vielen Jahren geforderte Verbesserung der Datenlage zur unbezahlten Wertschöpfung kommt nicht vor, was angesichts der weitgehenden Vernachlässigung der Fragestellung im Gutachten 2023 niemanden erstaunen wird.

Hoffnung auf ein Jahresgutachten 2024 – mit Weitblick

Viele Ökonom*innen weltweit haben angesichts der sich überschneidenden Krisen unserer Gegenwart ihr Nachdenken längst für Ideen geöffnet, die das BIP-Wachstum nicht länger zum Dreh- und Angelpunkt zukunftsfähigen Wirtschaftens machen: So wirbt Mariana Mazzucato für das Konzept der «collective value-creation», aus dem sich ein «citizens’ share» für alle Bürger*innen ableiten ließe, ob sie sich nun von «Erwerbsanreizen» bewegen lassen, notfalls auch Bullshit-Jobs anzunehmen, oder nicht. Kate Raworth schlägt vor, die Fixierung auf das Bild der aufsteigenden Kurve durch den Doughnut zu ersetzen, der die planetaren Grenzen des BIP-Wachstums ebenso sichtbar macht wie die Ansprüche eines guten menschlichen Zusammenlebens, das eben nicht in der Unterordnung unter das Erwerbsgebot für alle aufgeht. Aus dem Frankfurter Oswald von Nell-Breuning-Institut kommt die Anregung, zwischen Geldwirtschaft und Leistungswirtschaft zu unterscheiden, um so eine erste Handhabe zu gewinnen, realen Wert von der Fiktion zu trennen, Wertschöpfung sei per se mit Gelderwerb identisch. Glücksforscher*innen weisen seit vielen Jahren nach, dass welfare nicht gleichbedeutend ist mit immer mehr Arbeit, Konsum und Besitz. In vielen Instituten weltweit wird an qualitativ bestimmten Begriffen von Wohlstand, gutem Leben, Produktivität oder Leistung gearbeitet, die dem drohenden Klimakollaps standhalten. Konzepte, wie sich ohne die Fixierung aufs BIP-Wachstum nicht nur außermarktliche Wertschöpfung anerkennen, sondern auch Innovation stimulieren ließe, etwa durch ein bedingungsloses Grundeinkommen oder eine staatliche Jobgarantie, liegen längst auf dem Tisch. All dies kommt im Jahresgutachten 2023 nicht einmal in Nebensätzen vor. 

Aber es wird ein Jahresgutachten 2024 geben, in dem, so ist zu hoffen, die fünf Expert*innen unter Beweis stellen werden, dass die Öffentlichkeit, an die sie sich mit ihrem Gutachten (auch) wenden, sie zu Recht noch immer «die Wirtschaftsweisen» nennt.