Das Reformationsjahr 2017 im postpatriarchalen Durcheinander

Vortrag, gehalten am 1. Februar 2016 an einer Arbeitstagung der Synode der evangelisch-reformierten Landeskirche des Kantons Graubünden in Chur

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

Ich weiß nicht mehr, wann genau das war. Irgendwann vor ein paar Jahren hatte ich in einem deutschen evangelischen Tagungshaus plötzlich ein dickes, aufwändig gemachtes, reich bebildertes Heft in der Hand. Es hieß „Musik und Reformation“ oder so ähnlich. Ich wunderte mich über die für kirchliche Verhältnisse ungewohnt opulente Ausstattung des Heftes. Und plötzlich wurde mir mit einem Schlag klar: wir bewegen uns auf ein bedeutungsvolles Jahr zu! 2017! Jetzt geht’s los!

Natürlich merkte ich bald, dass es längst losgegangen war. Denn das opulente Heft war ja schon gedruckt. Es gab Arbeitsgruppen, Brainstormings, Fragekataloge, Fundraising-Anträge, Jubiläumsbeauftragte, neue Arbeitsstellen, Vorschauen, Logos, beginnende Kooperationen mit Tourismusunternehmen, Konsultationen, Konzepte. Ich staunte, dass mir das alles so lange hatte entgehen können, wo es doch schon in vollem Gange war.

Inzwischen sind die Vorbereitungen auf das große Jahr schon fast zur Routine geworden. Auch bei uns im Toggenburg, dem Geburtstal des Huldrych Zwingli. Man sucht grenzüberschreitend Anschluss an andere Stätten der Reformation, man plant Bustouren, Ausstellungen, Konzerte und versucht, die regionale Vereinsszene zu aktivieren. Man wagt vorsichtige Gespräche mit den katholischen Brüdern und Schwestern. Die wissen nämlich nicht so recht, wie mit unserer Feierlaune umgehen. Einige von ihnen sind fast ein bisschen beleidigt. Und ja: warum sollte man eine Kirchenspaltung feiern? Wie kann man sie feiern, vielleicht sogar gemeinsam? Vielleicht sogar interreligiös, über die engen Grenzen des Christlichen hinaus?

Derweil sitze ich an meinem Schreibtisch und schreibe.

Im Jahr 1993 habe ich mein erstes Buch publiziert. Das war meine Dissertation. In ihr habe ich mit einer ziemlich aufwändigen Methode nachgewiesen, dass Theologen bis in die Neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts „weißer erwachsener Mann“ meinen, wenn sie „der Mensch“ sagen, was sie recht oft tun. Diese Dissertation wurde im Februar 1990 von der Theologischen Fakultät Zürich abgelehnt, zwei Jahre später von der Theologischen Fakultät Heidelberg angenommen. Sie erschien dann in zwei Auflagen und hat möglicherweise hier und da ein bisschen Nachdenklichkeit bewirkt.

Finden Sie nicht auch, dass das ein ziemlich schwerwiegender Befund ist? Luther, Calvin, Zwingli und wie sie alle hießen, haben nur Männer gemeint, wenn sie über „den Menschen“ theologisierten? Würden Sie, liebe Pfarrer, eine Theologie ernst nehmen, die ausdrücklich nur Frauen als sprechende und angesprochene Subjekte kennt? (Ich könnte Ihnen jetzt reihenweise schöne Beispielsätze zitieren, aber dazu habe ich keine Zeit.)

Die meisten Frauen der Reformationszeit machten übrigens mit bei dieser symbolischen Einseitigkeit, und das ist auch kein Wunder: Es ist nämlich nicht so einfach, eine symbolische Ordnung zu verlassen, die sich in die Grammatik und ins Vokabular einer Sprache tief eingegraben hat. Weshalb es auch nicht viel nützt, wenn wohlmeinende Historiker und Historikerinnen jetzt Bücher über „Frauen der Reformationszeit“ schreiben. Schon Aristoteles, Augustin und Thomas von Aquin haben „Mensch“ und „Mann“ verwechselt. Karl Barth, Emil Brunner und Leonhard Ragaz tun es immer noch. Ob Hans Weder und Gottfried Locher sich von dieser eigenartigen Gewohnheit emanzipiert haben, weiß ich nicht. Denn inzwischen ist es mir zu langweilig geworden, Männer darauf hinzuweisen, dass sie sich selbst notorisch zum Allgemeinen verdrehen und ebenso notorisch ihr eigenes Geschlecht anbeten. Während sie gleichzeitig Selbstanbetung „Sünde“ nennen.

Es gibt viele Anzeichen dafür, dass wir immer noch mit dieser verkehrten symbolischen Ordnung leben, die auf der Grundidee vom „Menschen und seiner Frau“ aufbaut. Allerdings gibt es auch etliche Anzeichen dafür, dass wir diese Ordnung allmählich verlassen. Ich nenne unsere Gegenwart deshalb „das postpatriarchale Durcheinander“.

Inzwischen schreibe ich also aus der Ordnung hinaus, voraus in eine Zeit, in der wir alle gemerkt haben werden, dass „der Mensch“, also die Menschheit derzeit aus ungefähr sieben Milliarden verschiedenen Würdeträgerinnen und Würdeträgern besteht, die allerdings alle gleichermaßen geburtlich, verletzlich, frei und sterblich sind: sieben Milliarden Erdenbürgerinnen und Erdenbürgern, die zusammen mit unzähligen anderen Lebewesen im verletzlichen Kosmos Welt gut leben wollen. Wir sind alle geburtlich, das heißt: Wir kommen nicht aus der Hand eines Herrgott von oben herab, sondern aus dem Körper einer Frau der vorangegangenen Generation. Und das feiern wir auch jedes Jahr zweimal, nämlich an unseren Geburtstagen und an Weihnachten. Bloß haben wir noch nicht verstanden, was es bedeutet.

Es ist nicht so, dass die Theologie und unsere kirchliche Praxis sich irgendwo außerhalb des gewaltigen Paradigmenwechsels befinden, der da in Gang kommt, und dass wir langfristig einfach so weiterwursteln können wie bisher. Vielleicht kann man noch eine Weile weiterwursteln, nämlich solange noch ein bisschen Geld da ist. Vielleicht übersteht die Kirche mit ihrem Herrgottsgewurstel sogar noch das Reformationsjubiläum. Aber das Geld wird ausgehen. Und die Jugend wird sich nicht mit ein paar fetzigen Partysongs und musealen Bustouren zurückholen lassen.

Ich selber finde es übrigens nicht schlimm, dass die Kirchen schrumpfen. Hat Gott denn jemals gesagt, dass wir viele sein müssen? Aber ok, ich habe gut reden. Denn das Geld, mit dem ich meinen Lebensunterhalt bestreite, stammt weder von einer Kirche noch von einer theologischen Fakultät.

Aufbruch in postpatriarchale Religiosität

Natürlich bin ich damals, Ende der siebziger Jahre, nicht alleine auf die Idee gekommen, über die sündhafte Selbstverallgemeinerung des Männlichen nachzudenken. Es gab da schon eine lebhafte Szene von Leuten, die die geltende symbolische Ordnung als Ganze in Frage stellten. Dorothee Sölle schrieb ein Buch mit dem Titel „Atheistisch an Gott glauben“. Sie sagte uns mit ihren Texten, dass wir unsere heilsame Transzendenzbezogenheit nicht verlieren, wenn wir aufhören, an einen abstrakten unsichtbaren Mann zu glauben, der irgendwo über den Wolken thront und alles vom Anfang bis zum Ende der Welt kontrolliert. Wer glaubt schließlich noch im Ernst an diesen abstrakten Mann? Warum reden wir dann aber immer noch so, als ob wir an ihn glauben würden? – Mary Daly breitete in ihrem Buch „Jenseits von Gottvater, Sohn & Co“ die ganze Misere der institutionalisierten Herrenreligion vor uns aus. Schon damals war uns klar: Die platonisch-aristotelische Zweiteilung der Welt in ein höheres, körperloses, scheinbar unendliches Männliches und ein niederes, funktionales, bedrohliches Weibliches ist kein „Frauenproblem“, sondern verseucht die symbolische Ordnung, und damit auch die Theologie, bis ins Innerste. Alle diese scharfsinnigen theologischen Bücher stehen noch in irgendwelchen Bibliotheken herum. Vermutlich auch bei einigen von Ihnen zuhause. Wir können sie jederzeit abstauben und neu lesen.

Dorothee Sölle war bis zu ihrem Tod überzeugt, dass sich die christliche Tradition aus ihren eigenen Impulsen heraus transformieren lässt in etwas Anderes, Evangelisches, Lebens- und Weltfreundliches. Mary Daly hat die Kirche irgendwann verlassen und hat sich postchristlicher Religiosität zugewandt. Ich selber halte es bis jetzt mit Dorothee Sölle. Manchmal bin ich über meine Kirche, die mit Jesuspop die jungen Leute zurückholen will, verzweifelt. Manchmal finde ich sie einfach lustig. Was ich nach wie vor brauche und praktiziere, ist: Schweigen, Beten, die Bibel lesen, Singen und dann wieder Schweigen. Und dann Klartext reden. Und dann wieder Schweigen, Hören, Beten und Singen.

Im Jahr 2005 habe ich eine „postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition“ veröffentlicht, im Jahr 2011 eine Auslegung des apostolischen Glaubensbekenntnisses und im Jahr 2014 ein Buch über das Erbarmen und das bedingungslose Grundeinkommen. Seither bin ich eher nicht mehr so oft bei Protestantinnen und Protestanten zu Gast. Eher bei den katholischen Schwestern und Brüdern, denn die befinden sich ja gerade in einem „Heiligen Jahr der Barmherzigkeit“. Und vor allem bei Leuten, die mit Kirche möglichst wenig zu tun haben wollen. Kürzlich hat mich zum Beispiel die Heinrich Böll Stiftung, also die politische Stiftung der deutschen Grünen Partei beauftragt, diesen Essay über Wirtschaft und Zukunft zu schreiben. Man sagte mir, ich solle alles über Ökonomie, Geld, Zukunft, Ökologie, Care, Geschlechterverhältnis, Nachhaltigkeit und so weiter schreiben, was ich weiß, aber bitte ohne Theologie! OK, kein Problem, wird gemacht. Auch wenn ich es schade finde, dass viele Leute die befreienden, zukunftsfähigen, postpatriarchalen Aspekte der christlichen Matrix nicht sehen oder nicht sehen wollen. Warum eigentlich nicht?

Woran erinnern wir uns denn überhaupt im Jahr 2017?

Wir erinnern uns daran, dass Frauen und Männer in der Kirche, so wie sie damals war, so unzufrieden wurden, dass sie zu revoltieren anfingen. Und zwar nicht mehr nur in Hörsälen, Kämmerlein und Küchen, sondern offen, lautstark auf den Kanzeln und auf den Straßen.

Die Reformatorinnen und Reformatoren haben erkannt, dass GOTT, DAS LEBENDIGE kein „Etwas“ ist: kein Ding, das höhere Männer als exklusives Heilspaket an abhängige Kundinnen und Kunden verkaufen können, je nach Finanzkraft mehr oder weniger. Sie haben deshalb aufgehört, Räume exklusiver Sakralität vom Alltag abzutrennen. Im Prinzip jedenfalls. Bis zu einem gewissen Grad haben sie das Anderssein, die Unverfügbarkeit des Göttlichen wieder in die Mitte gestellt. So konnte das Heil, das göttliche Erbarmen, wieder anfangen, frei zu fließen, zwischen allen und allem.

Aber dann sind die Reformatorinnen und Reformatoren auf halbem Wege stehen geblieben. Noch vierhundert Jahre haben die evangelischen Kirchen gebraucht, um zu begreifen, dass der Bruch mit der zweigeteilten Ordnung auch bedeutet, Frauen, das vermeintlich „niedrige“, vermeintlich von Natur aus dienstbar-barmherzige Geschlecht, zum Verkündigungsamt zuzulassen. Heute gibt es in den meisten protestantischen Kirchen Pfarrerinnen und auch schon etliche Bischöfinnen. – Sobald mehr als ein Drittel der Pfarrpersonen Frauen sind, fängt allerdings wie auf Befehl irgendwo ein Pfarrer oder ein Professor an, über die „Verweiblichung“ von Kirche und Theologie zu lamentieren. Was genau ist damit gemeint, außer einem seltsamen paternalistischen Reflex, der Gleichsetzung von Theologie mit paradoxaler Heldenrhetorik und Angst vor Machtverlust? Was bedeutet die Angst vor Machtverlust in einer Kirche, die jedes Jahr Gott erst als wehrloses Baby und dann als gescheiterten Revolutionär anbetet?

Wer die Entwicklung hin zu weiblicher Autorität unter dem gängigen Begriff der „Gleichstellung“ subsumiert, greift bei weitem zu kurz. Denn nicht dass Frauen jetzt „auch“ tun dürfen, was bisher Männern vorbehalten war, ist die Essenz dieser Entwicklung. Die Zulassung der Frauen zum geistlichen Amt bedeutet mehr und anderes: nämlich einen weiteren Schritt in Richtung auf die Befreiung GOTTES aus dem Gefängnis der Hierarchie : Nicht mehr Männer verkünden von den Kanzeln die Barmherzigkeit, von der sie erwarten, dass Frauen und andere Untergebene sie stillschweigend in die so genannte Praxis umsetzen. Das nur scheinbar zur schweigenden Barmherzigkeit geschaffene Geschlecht ergreift selbst das Wort. Es ist also niemand mehr da, der gratis und unsichtbar ausführt, was man in den Fakultäten als göttlich erkannt hat: die bedingungslose Liebe. Jetzt sind alle dafür verantwortlich, dass Windeln auch ohne „finanzielle Anreize“ gewechselt, Scheißhäuser geputzt und nährende Botschaften ins Wort gesetzt werden. Ein wundersam göttliches Durch/Einander kommt in die Welt. Das ist Reformation heute. Besser: postpatriarchale Transformation aus biblischem Geist.

Bis ins sechste Jahrhundert, übrigens, wurde das deutsche Wort „Gott“ im Neutrum gebraucht: DAS GOTT. Erst die römische Reichskirche hat in unseren Breiten den Gott daraus gemacht. Heute setzt eine heilsame, längst noch nicht abgeschlossene Vervielfältigung der Gottsprache ein: raus aus dem Herrgottskrampf in eine Mystik des DAZWISCHEN.

Die offiziellen Protestantismen scheinen allerdings die Fruchtbarkeit des postpatriarchalen Durcheinanders noch nicht begreifen zu wollen. Theologische Reflexion über das Durcheinander findet zwar statt. Aber in den Zentren des Protestantismus bemüht man sich vorerst, sie möglichst geheim zu halten.[1] Es soll nämlich alles schön langweilig bleiben. Ernst Troeltsch hatte deshalb Recht, als er schon im Jahr 1906 feststellte, der Protestantismus sei voller „Prinzipienlosigkeiten und Haltlosigkeiten,“ die sich „bis zum heutigen Tage“ fortsetzen.[2] Aus Angst wovor eigentlich genau?

Der Gedanke, dass die Reformation kein Endprodukt ist, sondern immer wieder Anfang, ist natürlich trotzdem protestantisches Gemeingut. Im Prinzip. Man kann diesen Gedanken als eine Art folgenlosen Refrain allüberall in den Broschüren zum Reformationsjubiläum lesen. Derweil überstürzen sich die theologisch-diakonischen Ereignisse seit Jahrzehnten dort, wo die feministische und postpatriarchale Theologie wirklich wirkt. Zum Beispiel in den Gemeinden, in denen die „Bibel in gerechter Sprache“ trotz aller Anfeindungen in Gebrauch ist und fromme Geister heilsam in zukunftsschwangere Bewegung setzt.

Wer trotzdem einfach weiterwursteln und Bustouren zu historischen Stätten organisieren will, soll das von mir aus tun. Ich bin dann halt nicht dabei, und viele andere auch nicht. Aber ich werde Ihnen jetzt trotzdem noch sagen, wie es anders gehen könnte:

Ich sehe es so:

Es ist alles da, was wir brauchen, um im Jahr 2017 die Reformation so zu feiern, dass sie ein Neuanfang ist, der froh macht und weithin sichtbar ist:

Erstens: Da sind diese Bibliotheken voller feministischer, historisch-kritischer, materialistischer, befreiungstheologischer, postpatriarchaler Forschung. Viele junge und ältere bibel- und kirchenbegeisterte Leute haben Großartiges zutage gefördert: Gott ist laut biblischer Tradition tatsächlich kein abstrakter Mann irgendwo oben. Die heilige Ruach pfeift durch alle Ritzen und sprengt Fenster und Türen auf. Der Haushalt Gottes fängt hier und jetzt an, jederzeit und überall. Was nach dem Tod mit mir passiert, ist nicht mein, sondern Gottes Business, das wusste schon der weise Kohelet. Welch eine Befreiung von zwanghafter Jenseitsfixierung! Wir können uns also getrost, wie unsere israelitischen Vormütter und Vorväter, auf die Weltgestaltung konzentrieren und Gott vertrauen, dass SIE für alles Jenseitige schon gut vorgesorgt hat. Und so weiter. OK, ich geb’s zu: viel theologische Wissenschaft ist ein bisschen geschwurbelt: also so kompliziert geschrieben, dass eine normale Pfarrerin sie bei all dem Betrieb, den sie täglich zu bewältigen hat, kaum verkraftet. Aber ich sage Ihnen, es lohnt sich zu lesen: in der theologischen Wissenschaft der vergangenen vierzig Jahre lassen sich Schätze finden, sofern man sie sucht.

Zweitens gibt es inzwischen eine lebhafte interreligiöse und interkulturelle Szene, hier in der Schweiz und anderswo. Von der neuen katholisch-evangelischen Unverkrampftheit in den meisten Gemeinden ganz zu schweigen. Da wird zusammen gelebt und gefeiert und debattiert. Chanukka- und Adventskerzen brennen nebeneinander auf öffentlichen Plätzen, Musliminnen laden uns zum Bairam ein und wir sie zum Gemeindefrühstück. Wer nicht weiß, was das Kopftuch für Musliminnen bedeutet, kann googeln oder die Nachbarin fragen. Reformierte pilgern nach Santiago und zünden Kerzen an, Katholikinnen lernen im Lehrhaus Hebräisch. Schulklassen besuchen den Hindutempel im Haus der Religionen. Atheistinnen haben immer noch nichts gemerkt und widerlegen standhaft den Herrn Gott, an den fast niemand mehr glaubt. Es ist ein großartiges reales Durcheinander im Gange. „Durcheinander“ kann man auf drei Weisen schreiben: in einem Wort, dann macht es ein bisschen Angst und regt zum Aufräumen an. In zwei Wörtern: Durch einander. Da wird eine Richtung sichtbar: Durch einander erfinden wir allmählich neue Ordnungen für unser lokales und globales Zusammenleben. Und in drei Wörtern: Durch ein ANDER. Da kommt, wenn uns die wuselnde Zwischenmenschlichkeit überfordert, GOTT wieder herein: als DAS ANDERE, das zum Ausruhen einlädt, im Schweigen, Beten und Wieder Aufstehen.

Drittens: Wir befinden uns im heiligen Jahr der Barmherzigkeit. Ob der schlaue neue Franziskus unserem Jubeljahr bewusst zuvor gekommen ist, weiß ich nicht. Vielleicht sind Sie da besser informiert. Jedenfalls ist das, sportlich gesprochen, ein Steilpass für unser Jubiläum. Und ich habe sogar noch vorher, nämlich im Jahr 2014, dieses Buch zum Thema „Erbarmen“ publiziert, in dem ich unter anderem meine Erfahrungen mit der eidgenössischen Volksinitiative für ein bedingungsloses Grundeinkommen erzähle. Diese Erfahrungen sind durchaus zwiespältig. Umso wichtiger ist es, dass Kirchenleute sich mit dieser Initiative theologisch befassen. Denn sie zielt mitten hinein in die evangelische Zentralbotschaft von der bedingungslosen Zuwendung GOTTES. Oder haben Sie das etwa noch nicht gemerkt? Oder meinen Sie, diese bedingungslose Liebe GOTTES sei einfach ein schöner Gedanke für daheim, der aber nichts zu tun hat mit der Art, wie wir unser Zusammenleben in der Zeit der globalisierten Wirtschaft einrichten? In einer Zeit, in der die Einen immer geldreicher werden, die anderen ärmer, in der Jobs massenweise durch Roboter ersetzt werden und die entscheidende Arbeit in der Mitte des Ganzen immer noch gratis, also ohne die scheinbar unverzichtbaren „finanziellen Anreize“ geleistet wird? Hätten Sie denn als Baby überlebt, wenn Ihre Mutter – oder ein anderer fast sicher weiblicher Mensch – sich nur gegen „finanzielle Anreize“ in Bewegung gesetzt hätte? – Ohne unbezahlte Care-Arbeit gäbe es keine Menschen. So einfach ist das. Was aber sollen Geld, Markt, Profite, Aktien, Kirchen, Kanzeln, Universitäten, Popsongs und so weiter ohne Menschen bedeuten? Sollten wir frommen Leute das vielleicht wieder einmal laut sagen? So, dass man es auch in Davos und New York hört?

Viertens: es gibt schon unzählige greifbare sozial-ökologische Bewegungen, die auf einen Abschied von der zweigeteilten symbolischen Ordnung hin arbeiten, und zwar in den unterschiedlichsten Kontexten. Ich verweise nur auf diese zwei, in denen ich selber aktiv bin: die internationale Bewegung Care-Revolution oder Wirtschaft ist Care und die ebenso grenzüberschreitende Bewegung für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Letztere ist in der Schweiz gerade besonders aktuell, weil wir am 5. Juni 2016 über die entsprechende Volksinitiative abstimmen. Im vierten Kapitel des Essays „Wirtschaft ist Care“ habe ich eine offene Liste solcher Bewegungen angefangen, die auf Ergänzung wartet. An all diesen lebensfreundlichen Initiativen sind Christinnen und Christen beteiligt, allerdings meistens ohne ihre religiösen Motivationen zum Thema zu machen oder viel Energie in theologische Reflexion zu stecken. Man hat anderes zu tun und will nicht frömmlerisch erscheinen. Die Kirchen könnten, statt sich notorisch an ihrer so genannten „Identität“ abzuarbeiten, auf das Reformationsjubiläum hin theologische Verbindungen zu all diesen Bewegungen schaffen, kritisch und unterstützend, lernbereit und mit dem weiten Horizont einer vieltausendjährigen Geschichte.

Es ist noch viel mehr da: immer noch Geld, Raum, Zeit und Macht im Besitz der Kirchen. Die vollkommen neuartigen Möglichkeiten zu kommunizieren, die uns das Internet, insbesondere die Social Media Plattformen bieten. Zukunftsschwangere Denkansätze außerhalb oder an den Rändern der Theologie, an die sich anknüpfen lässt. Ich denke da vor allem an das von Hannah Arendt inspirierte Denken der Geburtlichkeit und an die Queer Theory… Unser Jubeljahr 2017 findet statt in einer Welt, die unendliche Anknüpfungspunkte bietet für ein gemeinsames Weitergehen in ein gutes Zusammenleben für alle weltweit. Schließen wird uns also dem Paradigmenwechsel an.

Rede ich unsere Welt, die von Krieg, Terror und Ungerechtigkeit gezeichnet ist, schön?

Nein, aber ich schaue in eine bestimmte Richtung. Und diese Richtung wird mir von meinen biblischen Vorfahrinnen und Vorfahren wärmstens empfohlen. Das hört sich so an:

Fürchtet euch nicht! (Lk 2,10 uvam)

Freuet euch, und abermals sage ich: freuet euch! (Phil 4,4)

 

 

 

 

[1] Die heftige Debatte um die im Oktober 2006 erschienene „Bibel in gerechter Sprache“ enthüllt, wie wenig sich die etablierte akademische Theologie bisher mit den seit Jahrzehnten diskutierten Anfragen der Feministischen Theorie und Theologie auseinandergesetzt hat. Vgl. z.B. Ingolf Dalferth, Der Ewige und die Ewige. Die „Bibel in gerechter Sprache“ – weder richtig noch gerecht, sondern konfus, in: NZZ vom 18./19. November 2006, 65; Ulrich Wilckens, Theologisches Gutachten über die „Bibel in gerechter Sprache“, in: Elisabeth Gössmann ua. Hgg, Der Teufel blieb männlich. Kritische Diskussion zur „Bibel in gerechter Sprache“, Feministische, historische und systematische Beiträge, Neukirchen-Vluyn 2007, 153-180.

[2] Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, in: Ernst Troeltsch: Schriften zur Bedeutung des Protestantismus für die moderne Welt (1906-1913), hg. von Friedrich Wilhelm Graf, Volker Drehsen, Gangolf Hübinger, Trutz Rendtorff, Berlin/New York 2001, 200-316, hier: 256.