Care-Freitag und Ostern

Christinnen und Christen begehen die Woche vor dem Osterfest als „Karwoche“. Im Haus meiner Älteren, die nicht besonders fromm, aber kulturell angepasst lebten, herrschte am Beginn dieser Woche Geschäftigkeit, dann je länger je mehr eine beklommene Stille. An Karfreitag schliesslich duldete meine sonst so tolerante Tante nicht mehr, dass meine Schwester und ich in ihrem Wohnzimmer lebhafte Spiele vollführten. Es sei „der höchste Feiertag von uns Evangelischen“, sagte sie, und es sei ein trauriger Tag, weil an ihm „der Herr Jesus ans Kreuz geschlagen“ worden sei. Wir kannten die Geschichte aus unserer Kinderbibel, wir hatten auch schon Passionen von Johann Sebastian Bach gehört, und wir hatten Bilder gesehen: ein misshandelter Mann bricht unter der Last eines schweren Balkens zusammen. Frauen weinen, Hände und Füsse werden durchbohrt. Ein grausamer, verspotteter Tod.

Kar- und Care

Im Duden Herkunftswörterbuch steht, vom althochdeutschen Wort „Kara“ sei im modernen Deutsch nur noch die Vorsilbe „Kar-„ übrig geblieben. Dieses Wort habe einst „Klage, Trauer“ bedeutet und entspreche dem gotischen Begriff „chara“, der seinerseits mit dem englischen Verb „to care“ verwandt sei. „To care“ bedeutet nun allerdings nicht „trauern“, sondern: sich sorgen, versorgen, sich in Sorgfalt üben, fürsorglich sein, pflegen…

Tatsächlich haben die Freundinnen und Freunde des Wanderpropheten Jesus von Nazareth nicht nur getrauert, als er seinen schweren Weg nach Golgatha antrat und starb. Zwar heisst es, einige seiner Vertrauten hätten sich versteckt, wohl aus Angst, selbst verhaftet zu werden. Aber seine Freundinnen, darunter die Mutter Maria, seien bei ihm geblieben. Josef von Arimathia, ein wohlhabender Sympathisant der Jesusbewegung, habe sich, so wird berichtet, beim Statthalter Pilatus die Genehmigung geholt, Jesus zu bestatten. Am nächsten Tag, dem Pessachfest, hätten dann die Frauen „Duftöle und Salben“ zubereitet (Lk 23,55), die sie am folgenden Morgen zum Grab trugen, um den Leichnam einzubalsamieren. – Wer sich in der Bibel auskennt, weiss, wie die Geschichte weitergeht: Die Frauen finden das Grab leer. Seltsame Lichtgestalten sagen ihnen, der Messias sei wieder aufgestanden.

Wenn jemand stirbt, sind auch heute noch Menschen da, die sich um die Bestattung kümmern. Und wer gebrechlich oder krank ist, hat normalerweise Leute um sich, die pflegen und begleiten: Sie versorgen die kranke Person mit allem, was sie braucht: mit Nahrung, Arznei, Trost, Hoffnung… Wir wissen es alle: wenn Menschen krank sind, wird besonders deutlich, wie fürsorgeabhängig letztlich alle sind, vom ersten bis zum letzten Lebenstag: Babies, die menschlichen Neuankömmlinge, brauchen zunächst Rundumversorgung. Später werden zwar die meisten „selbstständig“. Selbst stehen, gehen, sprechen und noch viel mehr zu können, bedeutet aber nicht „Unabhängigkeit“: Könnte ich denn als Erwachsene überleben, wenn andere nicht für mich Häuser, Strassen, Wasserleitungen und Kanalisationen bauen, Getreide züchten, Waren in den Supermarkt transportieren, Mahlzeiten kochen, aufräumen, putzen, zuhören, Sinn stiften würden?

Care-Freitag und Ostern  

Warum interessiert mich Jesus von Nazareth überhaupt? Weil er vor ungefähr 2000 Jahren ermordet wurde? Oder weil man ihn aus einem bestimmten Grund hingerichtet hat? Dass es einen Mann namens Jesus von Nazareth gegeben hat, weiss ich nur, weil seine Freundinnen und Freunde nicht aufhören konnten, über ihn und sein prägnant unangepasstes Leben zu reden. Und zwar so begeistert, dass sie, was passiert war, schliesslich „Auferstehung“ nannten: Aufstand für ein anderes, ein liebevolles Daseinsverständnis, das den Machthaberinnen und Machthabern so gefährlich vorkommt, dass sie es aus der Welt schaffen wollen.

Jesus interessiert und begeistert mich, weil er einen neuen Zugang geöffnet hat in eine Art zu leben, die Fürsorge und Sorgfalt – care, caritas – in die Mitte von allem stellt: in die Mitte persönlicher Beziehungen, in die Mitte von Politik und Ökonomie…: Nicht um gross herauszukommen, als Winnerin unter Losern, bin ich in der Welt, sondern um täglich in Freiheit zu nähren, was mich als fürsorgeabhängiges Menschenwesen immer schon nährt: das LEBENDIGE. Zum Glück feiern schon viele christliche und weniger christliche Leute die Karwoche als Care-Woche. Man kreuzigt sie nicht mehr, aber man drängt sie immer noch an den Rand. Wenn sich ihre Lebenspraxis herumspricht, wenn sie der Macht widersteht, wenn sie sich über den Globus ausbreitet – nicht als „Christentum“, sondern als Care – , dann wird Auferstehung sein. Dann ist Ostern.

 

(Dieser Text ist zuerst erschienen in: Anzeiger. Das Ostschweizer Wochenmagazin vom 16. April 2014, S. 12f)

Nächster Beitrag
Hinterlasse einen Kommentar

2 Kommentare

  1. „Jesus interessiert und begeistert mich, weil er einen neuen Zugang geöffnet hat in eine Art zu leben, die Fürsorge und Sorgfalt – care, caritas – in die Mitte von allem stellt: in die Mitte persönlicher Beziehungen, in die Mitte von Politik und Ökonomie.“

    Ja.

    Antworten
  1. Karfreitag? Wozu braucht man den heute noch? oder nicht mehr? – Gott und Co.

Hinterlasse einen Kommentar