Xanthippe macht sich auf

Predigt am 01. März 2020 in der Kirche Zürich-Enge, zur Eröffnung der Ausstellung „Schwangerschaft hören“ von Christiane Forstnig

Liebe Gemeinde, heute erzähle ich Ihnen eine Geschichte, die nicht in der Bibel steht. (Keine Sorge, ich komme dann später schon noch auf die Bibel zu sprechen.) Vielleicht kennen Sie die Geschichte. Sie ist nämlich ziemlich berühmt. Sie handelt vom Tod des Sokrates. Die Geschichte steht im Dialog „Phaidon“ von Platon. Sie ist also ungefähr dreihundert bis fünfhundert Jahre älter als die Texte des Neuen Testaments. Insgesamt ungefähr zweitausendvierhundert Jahre alt. Die Geschichte geht so:

Die Obrigkeit von Athen hat Sokrates, den umtriebigen Philosophen, zum Tod verurteilt. In der Urteilsbegründung heißt es, er habe die Leute zum Aufruhr verführt. Jetzt sitzt er im Gefängnis und soll schon bald tödliches Gift trinken. 

Seine Frau Xanthippe ist bei ihm. Mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoss sitzt sie neben ihm und weint. Da kommen ein paar Männer zur Tür herein. Es sind Philosophenfreunde von Sokrates. Sie wollen ein letztes Gespräch mit ihrem Meister führen. Phaidon, einer der Männer, beschreibt die Szene so:

„Als wir eintraten, fanden wir den Sokrates …, und Xanthippe saß mit dem Kind neben ihm. Als sie uns sah, jammerte sie und redete Weiberkram. Zum Beispiel so: Ach Sokrates, jetzt reden deine Freunde zum allerletzten Male mit dir, und du mit ihnen!“

Was tut nun Sokrates? Er wendet sich an einen der Männer und sagt, man solle doch bitte die Frau und das Kind nach Hause bringen. Der Mann gehorcht und führt die beiden ab.

Kaum ist Xanthippe mit dem Kind verschwunden, fängt Sokrates ein Gespräch mit seinen Freunden an. Oder besser gesagt: er hält ihnen einen Vortrag. Der Meister erklärt den Schülern, was Leben und Tod bedeuten. Tod sei kein Grund zur Trauer, sagt Sokrates. Denn mit dem Tod fängt das Leben erst richtig an. Es kann einem also nichts Besseres passieren als ein Todesurteil. Denn das Leben im Körper, zwischen Geburt und Tod, ist doch eigentlich nur mühsam – mit all den Bedürfnissen und Begierden, mit Hunger, Durst, Krankheit, Corona, Angst und so weiter. Die Seele fängt erst richtig an zu leben, wenn sie sich endlich vom Körper trennen kann, sagt Sokrates.

Er freut sich also auf den Tod, oder zumindest will er diesen Anschein erwecken. Nach seinem Vortrag nimmt er den Becher mit dem Gift vom Gefängniswärter entgegen und trinkt ihn seelenruhig aus.

Seine Freunde bemühen sich, so cool wie möglich zu bleiben. Denn das ist ja die logische Reaktion, wenn einer gerne stirbt. Es gelingt ihnen aber nicht.  Einer nach dem anderen fangen die Jungs an zu weinen. Da sagt Sokrates: „Was macht ihr bloß, ihr sonderbaren Leute? Ich habe doch extra die Frau weggeschickt, damit sie euch nicht zum Rumjammern verleitet!“ Da schämen sich die Männer und hören auf zu weinen. Dann stirbt der Philosoph.

Das war die berühmte Geschichte vom Tod des Sokrates in der Version seines Schülers Platon. Und jetzt erzähle ich Ihnen die Geschichte noch einmal aus einer anderen Perspektive. Der Titel heißt jetzt nicht mehr „Der Tod des Sokrates“, sondern „Xanthippe muss nach hause“:

Xanthippe sitzt in ihrer Küche und ist traurig. Denn Sokrates, ihr Mann, muss heute sterben. Die Obrigkeit von Athen hat ihn zum Tod verurteilt. Er konnte es ja nicht lassen zu provozieren. Andauernd war er auf den Straßen von Athen unterwegs und hat die Leute mit seinen Fragen genervt.

Obwohl: eigentlich war das keine schlechte Sache, denkt Xanthippe. Die Leute sind ja oft wirklich allzu gefangen in ihren Alltagsgeschäften. Es tut ihnen gut, wenn einer sie zum Nachdenken bringt, zum Beispiel über den Sinn des Lebens. Ihr selber hat das auch gutgetan. Sie hat ihren Sokrates sogar geheiratet, weil er anders war als andere: Er interessiert sich nicht für Reichtum, Krieg und Ehre. Er interessiert sich für die Wahrheit. Das gefällt ihr. Aber er hat es übertrieben. Er hat sein Leben riskiert und vergessen, dass das Leben auch schön und wahrscheinlich alles ist, was wir haben, und dass er Verantwortung trägt. Nicht nur für Frau und Kind. Sie, Xanthippe, würde es schon alleine schaffen, und ihr Leben wäre sogar einfacher ohne diesen Mann. Aber Sokrates hat Verantwortung übernommen für seine Freunde, seine Schüler, für die ganze Stadt Athen. Man kann doch die Leute nicht mit Fragen durcheinander bringen und sie dann einfach sitzen lassen? Außerdem ist Fragen kein Selbstzweck. Nachdenken ist dazu gut, dass das Leben gelingt.

Xanthippe weiß nicht genau, ob sie traurig ist, oder eher wütend. Sie geht aber trotzdem ins Gefängnis, um sich von Sokrates zu verabschieden. Sie setzt sich zu ihm, mit dem Kind. Sie sieht, wie da etwas zerbricht: Beziehungen zerbrechen, ohne Not. Sokrates ist ja nicht krank. Er ist voll bei Kräften. Viel könnte er noch tun, damit seine Fragerei nicht im Nichts endet. 

Da sitzt er, ihr Sokrates: cool, spöttisch, überheblich. Wahrscheinlich muss er sich fürchterlich anstrengen, um nicht zu weinen. Sie kommt nicht an ihn heran. Er doziert. Er lässt sie abführen.

Ein paar Stunden später kommt Kriton zu Xanthippe nach hause und überbringt ihr die Nachricht: Sokrates ist gestorben, und er, Kriton, hat jetzt endlich verstanden, warum sein Lehrer so bewundernswert souverän ist: „Er hat gesagt, dass erst mit dem Tod das richtige Leben anfängt, jedenfalls für denkende Menschen wie ihn, die Sinn haben für Höheres. Wir werden alle aus einem Dreckloch in ein Dreckloch geboren, hat er gesagt. Und das stimmt! Es ist eklig, dieses Leben, diese schreienden und scheißenden Säuglinge überall, diese vielen Krankheiten, und dann das Alter! Es ist ein Jammer! Sokrates hat Recht. Aber ihr Weibsbilder kapiert das halt nicht. Ihr seid zu dumm und habt nichts Besseres zu tun, als dauernd neue Kinder in die Welt zu setzen. Die müssen dann wieder denselben Leidensweg antreten, bis ihre Seelen sich schließlich vom Leib lösen können! Wie gut, dass Sokrates jetzt endlich sein Ziel erreicht hat. Jetzt ist er tot. Jetzt ist er frei!“

Denkste, denkt Xanthippe, und schweigt. Sie schweigt bis heute. Fast bis heute.

So, und nun: Warum habe ich Ihnen diese Geschichte in zwei Versionen erzählt? In einem Gottesdienst, in dem es um unser aller Anfang gehen soll: die Geburt? – Vielleicht haben Sie es gemerkt: Diese schlichte Tatsache, dass wir alle Geborene sind, kommt in der Geschichte vor. In beiden Versionen. Wenn auch nur indirekt: Sokrates konzentriert sich auf seinen bevorstehenden Tod. Er stellt sich vor, dass bei Geburten etwas Körperloses, etwas Immaterielles, das er „Seele“ nennt, in einen Körper eingeschlossen wird. Der Begriff Materia leitet sich vom Wort Mater ab. Mater heißt Mutter. Das so genannt  Im-materielle ist also der Teil des Menschen, der, so glaubt man, keine Mutter hat. Für Sokrates ist diese geburtliche Verbindung von Seele und Materie etwas Abstoßendes. Er will da möglichst schnell wieder raus. Xanthippe ist skeptisch: Wo soll das sein, das „Ewige“? Was soll das sein, die „Seele“?

Es ist gut möglich, dass Ihnen Sokrates‘ Vorstellung vom Geborenwerden und Sterben bekannt vorkommt. Allerdings weniger aus dem Philosophieunterricht, sondern eher aus der Kirche. Das Christentum gilt ja bis heute als so genannte „Jenseitsreligion“. Und das stimmt auch über weite Strecken der Kirchengeschichte. Ob es heute noch stimmt, da bin ich mir nicht sicher. Ich würde es gerne wissen. Aber die meisten Kirchenleute machen heute einen großen Bogen um die Frage nach dem so genannten „Jenseits“.

Jesus und Sokrates werden oft verglichen. Tatsächlich haben sie einiges gemeinsam: Beide waren Außenseiter, beide haben nichts Schriftliches hinterlassen, aber große Wirkungen entfaltet. Beide wurden wegen Aufruhr zum Tod verurteilt. 

Aber da gibt es auch wesentliche Unterschiede, und die sind wichtig: Erstens: Die Geburt des Jesus von Nazareth ist ein Thema in der Bibel, und wir feiern sie bis heute einmal pro Jahr, an Weihnachten, geradezu frenetisch. Allerdings denken wir dabei nicht viel nach. Wir feiern einfach.Von der Geburt des Sokrates ist hingegen nichts bekannt. Zweitens: Sokrates hat sich auf seinen Tod gefreut. Jesus hat sich nicht auf seinen Tod gefreut. Im Garten Getsemane hat er gebetet: „Wenn es möglich ist, Gott, erspar’ mir das Kreuz“ (Mt 26, 42). Jesus war gern lebendig. Drittens: Sokrates hat seine Frau weggeschickt, bevor er gestorben ist. Jesus hat keine Frauen weggeschickt. Unter dem Kreuz standen Frauen (Joh 19,25 par). – Was will uns das sagen?

Als Antwort erzähle ich ihnen nochmal eine Geschichte. Diese Geschichte steht im 18. Kapitel des Matthäusevangeliums in den Versen 1 bis 3. Ein paar Zutaten sind von mir: 

Jesus ist wieder mal mit seiner reichlichen Gefolgschaft unterwegs. Irgendwo auf einer Landstrasse in Galiläa, kurz vor Kafarnaum. Sie diskutieren wild durcheinander. Jesus sagt nicht viel. Seelenruhig stapft er vor sich hin und genießt die Aussicht auf den See.

Und da ist noch jemand unterwegs. Auf der anderen Straßenseite kommt eine Frau dem Trupp entgegen: Xanthippe. Sie ist inzwischen fast vierhundert Jahre alt. (Ja, in der Bibel geht das, das wissen Sie wahrscheinlich.) 

Xanthippe ist noch gut beieinander und hat viel Lebenserfahrung gesammelt. Nach dem Tod ihres Sokrates hat sie nochmal zwei Kinder von anderen Männern in die Welt gesetzt. Die sind jetzt auch schon alt und leben zuhause in Athen. Dann ist Xanthippe losgezogen in die Welt. 1841 Kilometer sind es laut Google Maps von Athen nach Kafarnaum. Ungefähr dreihundert Stunden zu Fuss, plus Überfahrt per Fähre. Das hat sie locker geschafft. Sie hat ja jetzt Zeit. 

Was sind denn das für Leute, die ihr da wild gestikulierend entgegenkommen? Sie kommt näher und hört, wie einer eine Frage stellt: „Wer ist im Gottesreich der Grösste?“ Xanthippe findet die Frage dumm, saudumm sogar. Aber sie wird neugierig. Ihr fällt wieder ein, was Sokrates damals gesagt haben soll, kurz vor seinem Tod: Erst mit dem Tod fängt das Leben an! Diesem Typen geht’s doch auch irgendwie drum, was nach dem Tod kommt. Oder etwa nicht? Die Jüdinnen nennen das glaub’ „Gottesreich“, was Sokrates „Ewigkeit“ nannte? Oder etwa nicht?

Die Gruppe bleibt stehen. Xanthippe bleibt auch stehen. Sie kann jetzt gut hören und sehen, was abgeht: Ein anderer Typ nimmt eins von den vielen Kindern an der Hand, die da zwischen den Erwachsenen herumwimmeln. Und dann sagt er:

„Denkt mal darüber nach, wie das war, als ihr noch so klein wart wie das Mädchen hier. Da habt ihr euch noch keine Gedanken gemacht darüber, was nach dem Tod kommt. Und wer der Grösste ist. Ihr habt drauflos gelebt, gespielt, das Dasein genossen. Ihr wolltet nicht sterben, sondern erwachsen werden und was Sinnvolles anfangen. Ich kann mich noch gut erinnern, wie sich das angefühlt hat. Gut hat es sich angefühlt. Und wenn ich unsere Prophetinnen und Propheten richtig verstehe, dann wollen sie, dass ihr hier und jetzt gut lebt und Verantwortung übernehmt. Statt Fragen nach dem Jenseits zu diskutieren, die ihr sowieso nie und nimmer beantworten könnt. Das Jenseits gehört GOTT, ihr könnt es ruhig GOTT überlassen. Aber ihr: ihr seid von Müttern  geboren, damit ihr lebt, hier und jetzt, auf der Erde.“ Und dann lässt er das Kind wieder laufen. 

Vernünftiger Typ der, denkt Xanthippe. Würde mich nicht wundern, wenn aus dem mal noch was Größeres wird. Hoffentlich liest er nicht zu viel Platon. Amen.