Mutmaßungen zur hartnäckigen De-Thematisierung des größten Wirtschaftssektors. Erstens: Pfadabhängigkeit

WiC-Blogpost Nummer 56

Wer verstehen will, was «Pfadabhängigkeit» ist, kann sich eine Computertastatur anschauen: Die Buchstaben sind im deutsch- und englischsprachigen Raum auf eine bestimmte Weise angeordnet. Diese Ordnung erscheint willkürlich, war aber für mechanische Schreibmaschinen sinnvoll: Weil sich Typenhebel ineinander verhaken können, liegen die am häufigsten gebrauchten Buchstaben nicht nebeneinander. Zwischen ihnen gibt es einen Sicherheitsabstand, der dem häufigen Sichverheddern der fragilen Hebelchen vorbeugt.
Computer kommen ohne Typenhebel aus. Trotzdem sind die Tasten bis heute angeordnet wie im 19. Jahrhundert, obwohl es ergonomisch betrachtet bessere Lösungen gäbe. Man hat einfach weitergemacht «wie immer», und deshalb tippen wir heute auf unseren Laptops und Smartphones pfadabhängig noch wie unsere Vorfahr*innen auf den ersten Schreibmaschinen.

Pfadabhängigkeit im Wirtschaftsjournalismus

«Wie immer», also pfadabhängig, haben sich auch die beiden Journalisten Andreas Bättig und Andres Eberhard verhalten, als sie im Oktober 2022 ein Gespräch mit dem Ökonomen Mathias Binswanger für ein Themenheft «Gefangene des Konsums» der Kirchenzeitschrift bref führten. Wie viele Nichtökonom*innen scheinen sie eine bestimmte Vorstellung davon im Kopf zu haben, was ein Ökonom ist und worüber er spricht: über Wachstumsraten und Staatsfinanzen, Aktienkurse und Konsumstimmungen, Banken und Börsen. Mathias Binswanger weist allerdings eine Besonderheit auf: Er ist nicht nur Ökonomieprofessor, sondern auch Glücksforscher, setzt also nicht, wie viele seiner Kollegen, so genanntes «Wirtschaftswachstum» kurzerhand mit allgemeinem Glückswachstum gleich. Wahrscheinlich war diese verheißungsvolle Spezialität sogar der pfadabhängige Grund, warum man in der bref-Redaktion beschlossen hat, ihn und nicht einen seiner Kollegen zu befragen. Denn das bref hält sich für irgendwie ein bisschen links und kritisch, und Christ*innen interessieren sich traditionell eher für das Heil der Menschen als für das der Zahlen.  

Pfadabhängig war, nach der Einladung des vermeintlichen Nonkonformisten, wohl auch die Entscheidung der Redaktionsleiterin Vanessa Buff, den Mann Binswanger von zwei Männern befragen zu lassen. Denn die Wirtschaftswissenschaft galt bis vor kurzem eindeutig als Männerdomäne. Zwar äußert Vanessa Buff auf Social Media immer wieder, dass sie als erwerbstätige Mutter übermäßig durch unbezahlte Care-Arbeit belastet ist. Es scheint ihr aber entgangen zu sein, dass das Schweizer Bundesamt für Statistik un- und unterbezahlte Care-Arbeit seit 1997 als den größten Wirtschaftssektor ausweist. Sie scheint deshalb nicht auf die Idee gekommen zu sein, das Gespräch mit Mathias Binswanger als Gelegenheit zu nutzen, die Bedeutung des größten Sektors ins Spiel zu bringen. Befragt nach den Hintergründen für die Entscheidung, drei Männer und keine Frau über Wirtschaft verhandeln zu lassen, äußerte sie vielmehr am 19. Oktober 2022 auf Twitter, Care sei doch ihr «persönliches Lieblingsthema», für das sie das von ihr geleitete Medium nicht «missbrauchen» dürfe. Entsprechend kommt der größte Sektor dann im Interview auch nicht vor: 

Ein pfadabhängiges Ausweichmanöver

Im Gespräch der drei Männer erläutert Mathias Binswanger zunächst – im Sinne einer Analyse der Mehrfachkrisen unserer Gegenwart – was er «Wachstumszwang» nennt. Seine Ausführungen münden in ein von ihm schon unzählige Male in Szene gesetztes Dilemma: Zwar mache immer mehr Konsum von Dingen die Menschen in Wohlstandsgesellschaften nachweislich nicht glücklicher. Das kapitalistische System sei aber auf die Produktion von immer mehr Konsumgütern angewiesen, weil es sonst in eine «Abwärtsspirale» gerate, «die in eine schwere Krise mündet» und «zu enormen Verteilungskämpfen führt.» (S.7) Deshalb «treibt heute die Wirtschaft die Menschen an, immer weiterzumachen» (S.7), auch wenn sie gar nicht mehr wollen.

Hier wäre der Punkt gewesen, an dem die Journalisten hätten fragen müssen, was es denn mit dem seit Jahrzehnten chronischen Arbeitskräftemangel im Care-Sektor, mit dem Pflexit und der Überlastung von Müttern und betreuenden Angehörigen auf sich habe, ob Staat und Unternehmen denn nicht Arbeitskraft dort einsetzen und endlich anständig bezahlen könnten, wo seit vielen Jahren ein tatsächlicher, nachgewiesener, stetig wachsender Bedarf bestehe, wo also nicht die eingeredeten, sondern die wirklichen Bedürfnisse der Menschen lägen, ob man also nicht personennahe Dienstleistungsjobs in der Alten- und Krankenpflege, in Kinderbetreuung, Sozial- und Gemeinwesenarbeit schaffen könne. Das sei doch eine Möglichkeit, nicht nur die Materialschlachten des Warenkonsums einzudämmen, sondern Menschen tatsächlich glücklicher zu machen und womöglich auch noch, da personennahe Dienstleistungen tendenziell ressourcenschonend sind, eine ökologische Wirtschaft voranzutreiben.

Die Befrager fragen aber nicht, sondern lassen Mathias Binswanger eine Dystopie entfalten, die in diesem zynischen Satz gipfelt: «Bürokratie ist sozusagen unsere Rettung.» (S.10) 

David Graeber, der Erfinder des Begriffs «Bullshit-Jobs», mit dem Binswanger dabei hantiert, hat es allerdings genau so nicht gemeint: Im letzten Kapitel seines berühmten Buches «Bullshit-Jobs», in dem er die Tendenz herausarbeitet, sinnentleerte Verwaltungsjobs zu schaffen, sobald die Warenproduktion an ihre Grenzen stößt, stellt er dem grassierenden Sinnverlust genau die Alternative entgegen, die die drei Herren im Interview pfadabhängig und unelegant umsegeln: eine Care-zentrierte Ökonomie samt der Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens (Graeber 2018).
Im Übrigen hat schon im Jahr 1967 der französische Wirtschaftswissenschaftler Jean Fourastié die Möglichkeit aufgezeigt, Vollbeschäftigung durch eine «tertiäre Zivilisation» zu erreichen, also durch «gut bezahlte, krisenresistente Arbeitsplätze in den Bereichen Soziale Arbeit, … Erziehung, Gesundheit, Pflege oder auch bei der hauswirtschaftlichen Grundversorgung». (Meier-Gräwe 2020).  

Verpasste Chance

Interessanterweise hat Mathias Binswanger mir schon zweimal bewiesen, dass er durchaus in der Lage ist, sich zur Bedeutung und zur Zukunft des größten Sektors Care einigermaßen sachkundig zu äußern, nämlich im Rahmen einer Sendung «Eine neue Ökonomie» von Radio DRS, die am 24. März 2019 ausgestrahlt wurde, und in einer Vortragsveranstaltung «Wirtschaft ist Care … und Geld?» der Siebten Schweizer Frauen*synode, zu der wir ihn am 16. November 2019 nach Basel eingeladen hatten. Da zeigte sich: Wer Mathias Binswanger ausdrücklich auffordert, sich zum steigenden Bedarf nach der anderen Art Glück zu äussern, die durch gelingende Bezogenheit und Beziehungen entsteht, bekommt zwar erstmal auch die ausgeleierte Geschichte vom gnadenlosen Wachstumszwang zu hören, erfährt dann aber doch, dass es ein solches Glück und den Bedarf nach mehr davon tatsächlich gibt. Und dass dieser Bedarf den Ausweg aus dem nur vermeintlich unlösbaren Dilemma des unglücklich machenden Zwangskonsumierens von Dingen darstellt: Statt in den Ausbau von Bullshit-Bürokratie könnten Staat und Unternehmen in Care investieren, sprich: in Alten- und Krankenpflege, Kinderbetreuung, Sozial- und Gemeinwesenarbeit. Zwar gibt es meines Wissens noch keine belastbaren Daten über den Ressourcenverbrauch personennaher Dienstleistungen. Aber dass es umweltfreundlich wäre, diesen Weg einzuschlagen, scheint mir auch ohne statistischen Beweis einigermaßen plausibel.

Das Interview im Oktoberheft des bref ist deshalb eine verpasste Chance. Es reiht sich ein in einen Trend, den ich hier provisorisch «die systematische De-Thematisierung von Care-zentrierter Ökonomie» nennen will. In diesem Fall kam es zur pfadabhängigen De-Thematisierung, weil weder die Redaktionsleiterin noch die beiden Befrager die richtigen, die weiterführenden Fragen gestellt haben. Und weil Mathias Binswanger, wie bis heute fast alle seine Kolleg*innen, nicht der erste „Top-Ökonom“ sein zu wollen scheint, der von sich aus, unaufgefordert, das riesige Fass der Care-zentrierten Ökonomie aufmacht.

Mascha Madörin hat am 30. Mai 2019 in der WOZ gesagt, es sei «tabu», «für Bildung, Gesundheit, die Pflege der Alten und so weiter … Geld zu schöpfen». Zum Glück hat sie im selben Interview auch gesagt, dass wir, anders als die Hersteller*innen von Computertastaturen, an dieser entscheidenden Stelle langfristig nicht darum herumkommen werden, vom Pfad abweichend Neues zu wagen. Und dann zitierte sie noch  Paul Krugman: «Wir haben die Wahl: Entweder finanzieren wir einen Krieg, um die Wirtschaft anzukurbeln, oder wir geben viel mehr Geld aus für die Care-Ökonomie.»

(Die Reihe „Mutmaßungen zur hartnäckigen De-Thematisierung des größten Wirtschaftssektors“ wird fortgesetzt.)

Literatur

David Graeber, Bullshit Jobs, Stuttgart (Klett-Cotta) 2018 

Uta Meier-Gräwe, Auf Sicht fahren reicht nicht! Blog der Friedrich Ebert Stiftung vom 11.11.2020

Wie die Frauen um 100 Milliarden betrogen werden, Gespräch mit Mascha Madörin, in: WOZ 22, 30. Mai 2019

«Wir müssen uns mäßigen», Gespräch mit Mathias Binswanger, in: bref. Das Magazin der Reformierten Nr.9/2022, 14. Oktober, 5-11 (online nur mit Paywall)