Blick zurück nach vorn: Wohlergehen im postpatriarchal gestalteten Raum

Zu: Barbara Zibell, Care-Arbeit räumlich denken. Feministische Perspektiven auf Planung und Entwicklung, Wettingen (efef Verlag) 2022, 190 Seiten
WiC-Blogpost Nummer 55

Wie würde sich unser Lebensraum Welt anfühlen, wäre er Jahrhunderte lang von Architektinnen und Raumplanerinnen gestaltet worden? Wie könnte die Welt in fünfzig Jahren aussehen, wenn wir heute, anknüpfend an Ideen unserer Mütter und Vormütter, in allen Planungsprozessen die Sorge für uns selbst, füreinander, für nachfolgende Generationen und die natürliche Mitwelt in die Mitte stellen würden?  

Diesen Fragen wendet sich Barbara Zibell, emeritierte Professorin für Planungssoziologie und Gender Studies an der Universität Hannover, in einem kenntnis- und materialreichen Buch zu. Anlass ihres feministisch informierten Blicks auf Geschichte und Zukunft der Raumplanung ist das Jubiläum «50 Jahre Frauenstimmrecht in der Schweiz» im Jahr 2021.  

Von der patriarchalen Funktionstrennung zur gegenseitigen Durchdringung von Lebensbereichen

Im einleitenden Kapitel interpretiert sie zunächst das Frauenstimmrecht als ein «Symbol des Gehörtwerdens», das weitergehende Prozesse der Beteiligung nach sich ziehen muss. Im zweiten Kapitel nimmt sie den Ist-Zustand in den Blick: einen weitgehend auf traditionell männliche Lebensformen zugeschnittenen öffentlichen und privaten Raum. Waren in der vorindustriellen Stadt verschiedene Lebensbereiche wie Wohnen und Arbeiten noch eher durchmischt, so dominiert seit der einflussreichen «Charta von Athen» (1933/41) die Idee der «funktionellen Stadt» mit ihrer Trennung von Wohnen, industrieller Erwerbsarbeit, Freizeit und Auto-zentrierter Mobilität. In dieser Raumstruktur spiegelt sich «die Perspektive desjenigen …, für dessen Reproduktion auf unsichtbare Weise gesorgt ist» (40). Insbesondere die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Siedlungsstrukturen behindern deshalb die heute anstehenden Entwicklungen hin zu einer geschlechter-, generationen- und mitweltgerechten Raumgestaltung der kurzen Wege. Das dritte Kapitel arbeitet die Geschichte feministischer Kritik an herkömmlicher Planung auf. Je länger je mehr fokussiert diese Kritik auf die Tatsache, dass man in patriarchalen Planungskonzepten «das Aufräumen und Entsorgen … ebenso vergessen (hat) wie die vielfach im Privaten geleistete, … lebensnotwendige Versorgungsarbeit…» (47). Was es laut feministischen Raumplaner*innen heute also vor allem braucht, ist eine Ablösung der patriarchalen Trennungen zwischen Erwerbszonen, Schlafstädten und Autoverkehr durch Raumstrukturen, die die Verwobenheit vielfältiger Prozesse wie Wohnen und Arbeiten, Produktion und Reproduktion, Bildung, Erholung, Ver- und Entsorgung spiegeln und ermöglichen. 

Vision 2071

Der Frage, wie eine Welt aussehen kann, die dem traditionell weiblichen zeitintensiven «versorgenden Alltag» (48) gerecht wird und darüber hinaus einer «breite Palette an Lebensformen und -vorstellungen» (48) verschiedener Generationen, Geschlechter und Herkünfte den angemessenen Raum bietet, wendet sich Zibell im vierten und längsten Kapitel «Vision 2071: Bausteine für Räume der Zukunft» zu: Sie versetzt sich dazu ins Jahr 2071, aus dem sie zurückblickt auf das Jahr 2021, als wir «50 Jahre Frauenstimmrecht» feierten. Jetzt, 50 Jahre später, ist vieles erreicht: Die Sorge füreinander und für den gemeinsamen Lebensraum ist konzeptionell ins Zentrum aller Planungsprozesse gerückt. Reine «Wohnzonen» und «Arbeitszonen» sind Geschichte, denn das Arbeiten ist Teil eines umfassenden Verständnisses von Wohnen geworden. Ohnehin arbeiten wir nur noch wenige Stunden pro Tag oder Monate pro Jahr für den Erwerb, das bedingungslose Grundeinkommen für alle ist eingeführt, die meiste Zeit gehört der Selbstversorgung, der Pflege von Beziehungen, dem Selbermachen, Reparieren, Gestalten und der Erholung. «Die Quartiere bieten eine Mischung von Nutzungen: Wohnen und Arbeiten, Versorgen und Entspannen finden in räumlicher Nähe statt.» (101) Während im Jahr 2021 die Leute noch in diversen so genannten «Verkehrsmitteln» sassen, um danach in Fitnesszentren ihre Körper zu trainieren, ist jetzt Mobilität als Fortbewegung des eigenen Körpers wiederentdeckt: vor allem als Zufussgehen und human powered mobility (106). «Es geht nicht mehr darum, alles so schnell wie möglich … zu bewältigen. Die Kultur der Langsamkeit und des Sorgetragens hat auch zu einer Reduktion der …  Reisezeiten geführt…» (106f). Kurze Wege sind selbstverständlich geworden, weil alle Quartiere mit den Einrichtungen für das Lebensnotwendige ausgestattet sind: Es gibt Wahlgrosseltern und Sterbebegleitung in der Nachbarschaft, belebten Aussenraum und Gemeinschaftsküchen, Jokerzimmer und vertikale Gärten, essbare Landschaften und  Stadtimkereien, Schulen als durchlässige Lernzentren für alle mitten im Quartier und noch viel mehr Raumanordnungen, die dem guten Zusammenleben dienen.

Bausteine für die Räume der Zukunft

Um sich nicht im Phantastischen zu verlieren, konkretisiert Barbara Zibell ihre Vision mit Bildern und Erzählungen von Projekten, die schon im Jahr 2021 feministischen Kriterien folgend realisiert sind: Überbauungen wie der Brahmshof, die Kalkbreite, das Kraftwerk1 in Zürich oder die FrauenWerkStadt 1 in Wien-Florisdorf sind Beispiele für heute schon erlebbare Orte, an denen die Care-zentrierte Zukunft erprobt wird: Hier befinden sich die Waschküchen nicht mehr im Keller, sondern auf dem gemeinsam genutzten Dach, Wohnkomplexe bieten Gemeinschafts- und Rückzugsräume. Was gemeinsam gebraucht werden kann, findet Raum ausserhalb der eigenen vier Wände, alles Notwendige ist nah, Radfahren ist gefahrlos geworden, denn der motorisierte Verkehr, sofern es ihn noch gibt, hat sich auf wenige Achsen zurückgezogen. 

Indem Barbara Zibell die Geschichten dieser Orte erzählt, indem sie über verschiedene mögliche Organisationsformen, auch über institutionelle Klippen, Kämpfe um Finanzierungen und die Rolle unterstützender Staatlichkeit berichtet, schafft sie Verbindungen zwischen den zahlreichen an Planungsprozessen beteiligten Institutionen und Gruppierungen und zwischen dem Heute und der Utopie, die Lust machen, sich mitten in dieser krisenhaften Gegenwart auf das Abenteuer eines Care-zentrierten Lebensraums einzulassen.   

(Am Mittwoch, 18. Mai 2022, 18 Uhr, findet in der St. Galler DenkBar eine Begegnung mit Barbara Zibell statt, organisiert gemeinsam vom Think-Tank WiC und der DenkBar).

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