Freiheit – Gleichheit – Selbstausbeutung

Zu: Bernhard Emunds, Julian Degan, Simone Habel und Jonas Hagedorn (Hg.), Freiheit – Gleichheit – Selbstausbeutung. Zur Zukunft der Sorgearbeit in der Dienstleistungsgesellschaft, Marburg (Metropolis Verlag) 2021
WiC-Blogpost Nummer 43

Wer sich mit postpatriarchaler politischer Ökonomie befasst, entdeckt immer mehr Fragen auf immer mehr Ebenen, die alle auf irgendeine Weise damit zusammenhängen, dass der mit Abstand größte Wirtschaftssektor der un- und unterbezahlten Care-Arbeit in wissenschaftlichen, medialen und Alltagsdiskursen bis heute nicht angemessen wahrgenommen und reflektiert wird: Wo liegen die Ursprünge dieser eigenartigen Ausblendung? Welche Folgen hat sie für die direkt Beteiligten und für das Zusammenleben aller im verletzlichen Lebensraum Welt? Wie kommt es, dass ein seit Jahren wachsender Pflegenotstand in reichen, sich digitalisierenden Gesellschaften bis heute kaum zur monetären und statusmäßigen Besserstellung der Sorgenden und Pflegenden geführt hat? Warum hat sich die Prognose des Ökonomen Jean Fourastié (1907-1990), es werde aufgrund des technologiegetriebenen Strukturwandels zu einer dauerhaften, qualifizierten Vollbeschäftigung im tertiären Sektor kommen, nicht erfüllt? Mit welchen Arrangements füllen Gesellschaften die Versorgungslücken, die durch die Auflösung patriarchaler Familienstrukturen einerseits, die zunehmende Vermarktlichung des Dienstleistungssektors andererseits entstehen? Warum gelingt es den un- und unterbezahlten Care-Arbeitenden insgesamt so schlecht, ihre Interessen zu vertreten und durchzusetzen?

Wer sich mit postpatriarchaler politischer Ökonomie befasst, freut sich, dass solche Fragen auch andere Leute umtreiben, und dass diese Leute sogar schon vor dem Einschnitt der Corona-Pandemie, in der der Wunsch nach einer sorgenden Gesellschaft unerwartet an Brisanz gewonnen hat, hochkarätige Konferenzen dazu veranstaltet haben. Die Ergebnisse einer dieser Konferenzen (Frankfurt, 30.9./01.10.2019) können jetzt, in pandemisch aktualisierter Form als sechstes Jahrbuch der Reihe „Die Wirtschaft der Gesellschaft“ von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (Heidelberg) und dem Oswald von Nell-Breuning-Institut für Wirtschafts- und Gesellschaftsethik (Frankfurt a.M.) publiziert, als verlässliche Wissensquelle für eine postpandemische Politik des guten und gerechten Zusammenlebens genutzt werden.

In achtzehn Beiträgen vertiefen sich zwölf Wissenschaftlerinnen und neun Wissenschaftler aus Soziologie, Sozialethik, Arbeitswissenschaft, Gerontologie, Volkswirtschaftslehre, Politologie, Familien- und Haushaltswissenschaft in die Analyse der vielfältigen, in lebhafter Bewegung befindlichen Gegenwartslandschaft der Daseinsfürsorge vor allem in Deutschland und Österreich. Zusammen mit zahllosen Verweisen auf abgeschlossene oder laufende Forschungsprojekte vermitteln die Texte den Eindruck einer sich zunehmend vernetzenden Erkenntnisbemühung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, ein Gemeinwesen zu entwerfen, in dem Menschen aller Geschlechter und Zugehörigkeiten in Gerechtigkeit und Sicherheit füreinander sorgen.

Das in Belgien erfolgreich praktizierte Modell subventionierter Gutscheine für haushaltsnahe Dienstleistungen (Uta Meier-Gräwe) kommt in diesem interdisziplinären Gespräch ebenso zur Sprache wie unterschiedlich (un)geregelte transnationale Sorgeketten (Friederike Bahl, Simone Habel) oder Experimente mit hauswirtschaftlichen Genossenschaften (Anneliese Durst und Ilona Ostner). Gefragt wird u.a. nach der Zukunft des Ehrenamts (Tine Haubner), nach den Gründen für die seltsame Diskrepanz zwischen moralischer Hochschätzung und monetärer Prekarität im Pflegesektor (Stephan Voswinkel), nach der Bedeutung des Theorems der „Kostenkrankheit“ für die Organisation personenbezogener Dienstleistungen (Hagen Krämer, Margareta Kreimer, Ines Heck) nach dem gespannten Verhältnis zwischen traditionellen Gewerkschaften und Menschen in Pflegeberufen, insbesondere in der Altenpflege (Wolfgang Schroeder), nach der problematischen Rolle des Begriffs „Dienstgemeinschaft“ in den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden (Karl Gabriel) oder nach den Mechanismen der Selbstausbeutung in einem zunehmend marktförmig organisierten Care-Gewerbe (Hans J. Pongratz).  Während die meisten Beiträge sich im Rahmen eines kritischen Reformismus bewegen, weisen insbesondere Paul Mason und Gabriele Winker in ihren Texten über die gegebenen Traditionslinien des klassischen Wohlfahrtsstaates hinaus in eine postkapitalistische, grundlegend neu strukturierte Gesellschaft, „in der die Trennung zwischen entlohnter und unentlohnter Arbeit aufgehoben ist und in der es gelingen kann, jenseits von Geld und Tausch die Bedürfnisse von Menschen zu befriedigen.“ (Gabriele Winker, 457)

So kommt am Ende dieser äußerst material- und kenntnisreichen Textsammlung der „System Change“ in Sicht, eine Perspektive, die, so ist zu hoffen, in naher Zukunft die Bewegung für eine würdige Organisation menschlicher Daseinsfürsorge mit den Bemühungen um ökologische Nachhaltigkeit im Zeichen des Klimawandels zusammenführen wird.    

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