WiC-Blogpost Nummer 14
Rede am ersten Hagener Frauenmahl (19.Mai 2017) „Do you care?“
Liebe Frauen,
Habt ihr euch schon mal überlegt, was „Wirtschaft“ eigentlich ist oder sein soll? —
Habt ihr schon mal über die Grundbedeutung des Wortes „Ökonomie“ nachgedacht? —
Egal, ob ihr jetzt mit Ja oder Nein antwortet, ich möchte meine Rede mit dieser Frage beginnen: Was ist Wirtschaft?
Wirtschaft: Theorie und Praxis der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse
Bei uns in der Schweiz und im Süden Deutschlands, wo ich herkomme, da geht man „in die Wirtschaft“. Was bedeutet das?
Es bedeutet, dass ich, zum Beispiel am Feierabend, in eine Kneipe gehe. Was mache ich da? Ich trinke vielleicht ein Glas Wein, und ich esse etwas dazu. Ich erhole mich, ich treffe mich mit Freundinnen.
Hier beim Frauenmahl können wir das gut nachvollziehen: Ein Frauenmahl ist ja auch eine Art Wirtschaft: Wir treffen uns, wir essen und trinken gut, wir reden über Gott und die Welt.
Oder etwas abstrakter: Wir befriedigen unsere Bedürfnisse nach Nahrung, Geselligkeit, Schutz, Wärme und Weltverständnis… Wir „restaurieren“ uns: Eine Wirtinschaft ist ein
Re-Staurant.
Wie verhält sich dieser alltägliche Gebrauch der Wörter „Wirtschaft“ und „Restaurant“ zu offiziellen Definitionen von „Wirtschaft“ und „Ökonomie“.
Dazu schaue ich erstmal bei Wikipedia nach. Da steht: „Wirtschaft oder Ökonomie ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen.“
Vorsichtshalber verlasse ich mich nicht nur auf Wikipedia. Ich konsultiere also ein Buch, das „Grundwissen Wirtschaft“ (Stuttgart 1973) heisst und vom Ökonomieprofessor Günter Ashauer stammt. Da steht: „Es ist Aufgabe der Wirtschaftslehre zu untersuchen, wie die Mittel zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse am sinnvollsten hergestellt, verteilt und ge- oder verbraucht werden.“
Mit weiteren Definitionen der Disziplinen „Volks- und Betriebswirtschaft“ will ich euch nicht langweilen. Obwohl es natürlich noch viel mehr davon gibt: In jedem Lehrbuch der Ökonomie steht eine, meistens ganz vorne, ungefähr auf Seite eins. Und alle sagen mir: Für die Aktivität „Wirtschaft(en)“ gibt es ein einziges klar umrissenes Ziel, nämlich: die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse.
Und was bedeutet das Fremdwort „Ökonomie“?
Der Begriff setzt sich aus zwei griechischen Wörtern zusammen: oikos und nomos. Oikos bedeutet Haus oder Haushalt, nomos bedeutet Gesetz oder Lehre. Die Oiko-Nomia ist also die Lehre vom Haushalten, genauer: vom guten, zweckmäßigen Haushalten. Und die Aufgabe von Haushalten ist es wiederum, menschliche Bedürfnisse nach Nahrung, Sicherheit, Schutz, Geselligkeit, Sinn zu befriedigen.
Ich kann jetzt meine Ausgangsfrage beantworten und fasse ein erstes Mal zusammen: Die Begriffe „Wirtschaft“ und „Ökonomie“ sind im Deutschen annähernd gleichbedeutend. Es geht dabei um die Praxis, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen. Und um die dazugehörige Lehre: also die Theorie oder Wissenschaft, die sich mit der Praxis der Bedürfnisbefriedigung befasst.
Warum braucht es Ökonomie? Ganz einfach: Weil alle Menschen bedürftig sind, vom ersten bis zum letzten Tag ihres Lebens. Es gibt keine nichtbedürftigen Menschen. Alle Menschen sind fürsorgeabhängig. Nur und genau deshalb braucht es Wirtinschaft.
Logisch, oder?
Wirtschaft: Praxis und Theorie geldvermittelter Tauschakte
So, und jetzt kommt das Problem:
Das Problem besteht darin, dass die meisten Ökonomen, also Managerinnen, Professoren, Wirtschaftsjournalisten und so weiter, ihre eigene Definition nicht ernst nehmen: Sie schreiben zwar auf Seite eins ihrer Lehrbücher, dass Wirtschaft – ganz allgemein – die Theorie und Praxis der Bedürfnisbefriedigung ist. Aber ab Seite zwei schreiben sie nur noch übers Geld. Genauer: über diejenigen Bedürfnisse, die wir befriedigen, indem wir etwas kaufen. Zum Beispiel im Supermarkt.
Ihr könnt das ganz gut selber überprüfen: Schlagt zum Beispiel den „Wirtschaftsteil“ einer Tageszeitung auf. Was lest ihr da? Ihr erfahrt etwas über Börsenkurse, über Geschäfte mit Autos, Maschinen oder Waffen, über Import und Export, über Finanzprodukte und so genannte Wachstumsraten. Und über Sparmassnahmen in Schulen und Krankenhäusern… Über euer Tun als Teilzeit- oder Vollzeithausfrauen erfahrt ihr nichts.
Noch ein Selbst-Test: Welche Bilder tauchen vor euren inneren Augen auf, wenn ihr diesen Satz hört: „Zu dieser Talkshow ist ein Vertreter der Wirtschaft eingeladen.“
Ich lasse euch ein paar Augenblicke Zeit, um eure inneren Bilder zu diesem Satz zu sortieren…
Ich bin mir ziemlich sicher: Es ist kein Altenpfleger aufgetaucht. Auch keine Kleinkinderzieherin. Wahrscheinlich ist ein Mann mittleren Alters im gepflegten Anzug erschienen, oder eine Frau in Deux-pièces und High-Heels… OK, lassen wir das.
Ich fasse zum zweiten Mal zusammen: Auf Seite eins des Lehrbuchs ist Wirtschaft als Theorie und Praxis der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse definiert. Ab Seite zwei geht es nur noch um geldvermittelte Tauschakte, also um die Herstellung von Waffen, Giften, Unterhosen oder Finanzprodukten. Nur noch Kaufbares gilt ab Seite zwei als Wirtschaft. Und übrigens: Der spektakuläre Themenwechsel, der sich zwischen Seite eins und Seite zwei des wirtschaftswissenschaftlichen Lehrbuchs vollzieht, wird nirgends begründet.
Um euch einen Eindruck von den Quantitäten zu vermitteln, um die es da geht, zitiere ich aus einer Presseerklärung des schweizerischen statistischen Bundesamtes vom 19. Februar 2015. (Die Zahlen sind für Deutschland und die Welt vergleichbar, aber weil ich in der Schweiz lebe und für die Schweiz denke, arbeite ich mit den schweizerischen Zahlen). Ich zitiere also:
Weil Frauen nach wie vor den Löwenanteil der unbezahlten Care-Tätigkeiten übernehmen, müssten sie, gemessen an ihrem tatsächlichen Arbeitsaufwand, weit mehr verdienen als Männer. Ich zitiere aus der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 19. Februar 2015:
Ordnung schaffen im postpatriarchalen Durcheinander
So, und nun: was haben wir denn da?
Wir haben ein gigantisches Durcheinander. Ich nenne es „das postpatriarchale Durcheinander“. Und ich zähle nur ein paar der erstaunlichsten Widersprüche auf, mit denen wir täglich leben:
Erstens: Ökonomen nehmen ihre eigenen Definitionen nicht ernst: Sie behaupten, ihr Kerngeschäft sei die Befriedigung menschlicher Bedürfnisse. Aber sie lassen den größten Wirtschaftssektor, die unbezahlte Care-Arbeit, aus. Sie setzen Ökonomie mit Geldwirtschaft gleich.
Zweitens: Frauen verdienen auf der ganzen Welt faktisch weniger Geld als Männer. In Westeuropa sind es bis zu einem Drittel weniger. Würde man aber alle wirtschaftlichen Leistungen mitrechnen, dann würden Frauen mehr verdienen als Männer. Erheblich mehr.
Drittens: Dort, wo unbezahlt gearbeitet wird, also vor allem in den Privathaushalten, befindet sich in Wirklichkeit das Zentrum der Wirtschaft. Denn welchen Sinn würde Wirtschaft ohne Menschen machen? Hättet ihr denn als Babies überlebt, wenn eure Mütter nur gegen „finanzielle Anreize“ gearbeitet hätten? – Diese Mitte der Ökonomie kommt in der so genannten „Ökonomie“, zum Beispiel im Bruttosozialprodukt, aber kaum vor.
Viertens: Viele Frauen sind immer noch sehr folgsam. Zum Beispiel höre ich immer wieder Sätze wie diesen: „Ich arbeite nicht, ich bin nur zuhause.“ Nicht nur die Ökonomen leben also mit einem verdrehten Weltbild. Wir alle machen mit.
Fünftens: Die unbezahlte Care-Arbeit wird aus der so genannten „Ökonomie“ auf vergleichbare Art und Weise ausgeschlossen wie die Ressourcen, die uns die Natur zur Verfügung stellt. Die Missachtung der Care-Arbeit hängt eng zusammen mit dem ökologischen Schlamassel, in den man uns hineinmanövriert hat: zum Beispiel mit dem Klimawandel.
Sechstens: Die offizielle Politik will uns weismachen, man werde das Problem mit ein paar Schönheitsoperationen lösen: mit ein bisschen mehr „Gleichstellung“ und Karriereförderung, ein paar Krippenplätzen mehr, mit ein bisschen „Vaterschaftsurlaub“ und so weiter. Das stimmt nicht. Es braucht einen Paradigmenwechsel – weg von der Geldzentrierung, hin zur Care-Zentrierung der Ökonomie.
Was tun wir im postpatriarchalen Durcheinander?
Durch einander machen wir uns auf den Weg in eine besser organisierte Welt. Durch einander suchen wir nach Auswegen aus dem Durcheinander.
Das Wort „Durcheinander“ kann man auf drei verschiedene Weisen verstehen:
Erstens: Durcheinander in einem Wort. Das ist die Bedeutung, die uns vertraut ist. Durcheinander in einem Wort, das ist: Chaos, Konfusion. Da wollen wir Ordnung schaffen, aufräumen, den Dingen wieder ihren richtigen Ort geben.
Zweitens: Durch einander in zwei Wörtern. Da wird ein Ausweg sichtbar: Die Lösung kommt nicht mehr von oben, nicht mehr von Pfarrherren und Professoren, sondern von uns: Durch einander finden wir heraus aus dem Durcheinander, in das wir geraten sind.
Drittens: Durch ein Ander in drei Wörtern: Diese Version ist zwar grammatikalisch nicht ganz korrekt, dafür kommt uns da etwas zu Hilfe: Etwas von außerhalb. Etwas ANDERES. Eine ANDERE, ein ANDERER. Eine hilfreiche PRÄSENZ. Unsere Vorfahrinnen und Vorfahren nannten das: GOTT. GOTT sagt von sich: ICH BIN DA. ICH BIN BEI EUCH. Fürchtet euch nicht! GOTT sagt: Ich bin DIE LIEBE, das verbindende DAZWISCHEN. Das GROSSE UMUNSHERUM. Das ERBARMEN. DIE HEILIGE GEISTKRAFT. Dieses ANDERE kommt uns zu Hilfe, wenn wir uns verirren im Durcheinander. Wenn wir durch einander nicht weiterkommen. Wenn wir Stille und Überblick und Gebet und Weisung brauchen: die Weisung unserer Vorfahrinnen, die uns zum Beispiel in der Bibel erreicht. Oder im Koran. Oder in anderen Texten der Traditionen. Oder im Brief einer Oma, die uns gute Ratschläge gibt…
Ich bin mir sicher: Schon Jesus von Nazaret und Paulus von Tarsis, schon Hildegard von Bingen und Teresa von Avila, schon Katharina von Bora und Martin Luther, Huldrych und Anna Zwingli haben es gewusst: Wir sind auf der Welt, um gut zusammen zu leben. Heute als ungefähr sieben Milliarden menschliche Würdeträgerinnen und Würdeträger, die mit unzähligen anderen Lebewesen den schönen und verletzlichen Planeten Erde bewohnen…
Sie alle haben es gewusst. Wir können uns Rat holen bei unseren Vormüttern und Vorvätern. Denn sie haben es gesagt und aufgeschrieben, uns überliefert, wenn auch oft in Wörtern, die uns nicht mehr so vertraut sind.
Wir respektieren unsere Vorfahrinnen und Vorfahren. Wir lesen ihre Texte. Wir lassen uns inspirieren und tragen das Erbe weiter in eine lebenswerte Zukunft. Wir leisten Übersetzungsarbeit in unsere Gegenwart hinein. Wir erfinden neue, passende Wörter für das gute Alte, das uns überliefert ist. Denn schliesslich ist inzwischen das Patriarchat zu Ende gegangen.
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