Verstehen und Inter-Esse

Kürzlich ist ein Text erschienen, auf den ich schon lange gewartet hatte. Natürlich wusste ich, bevor ich ihn gelesen hatte, nicht, dass ich auf ihn warte. Sonst hätte ich ihn ja selber schreiben können. Dass ich ihn erwartet hatte, merkte ich dann einfach daran, dass seine Lektüre mich froh gemacht hat, obwohl oder gerade weil es um eine sehr ernste Sache geht: um Weltpolitik, um Kriegsvermeidung.

Ein notwendiger Text

Es gibt ja zahlreiche Texte auf der Welt, gerade jetzt, da so viele Leute mit Socialmedia experimentieren. Viele dieser Texte sind gut und wichtig. Aber nicht viele würde ich als „notwendig“ bezeichnen. – Der Text, auf den ich gewartet habe, ist notwendig. Er stammt von einem Mann, der sich Philipp Sonderegger, „Organizer“ und „Menschenrechtler“ nennt und irgendwo in Österreich lebt. Der Text steht hier, heisst „Versteherinnen-Versteherinnen“ und handelt von einer Tendenz, die auch mir seit geraumer Zeit zu schaffen macht, ohne dass ich bisher präzise hätte auf den Begriff bringen können, worum es geht.

Philipp Sonderegger fängt so an: „’Frauen-Versteherin’. ‚Putin-Versteherin’ … ’Verstehen’ ist nun also endgültig als Schimpfwort in den medialen Sprachgebrauch eingegangen.“ Ja, so ist es, und ja, das ist ein großes Problem. Auch ich wurde schon mehrmals verbal niedergebügelt, wenn ich mich als postpatriarchale Männerversteherin oder als Putin-Versteherin geoutet habe. Und das finde ich alarmierend. Denn wer aufhört, andere mit ihren Standpunkten, Wünschen und Interessen verstehen zu wollen, hat irgendwie schon angefangen, Krieg zu führen, oder? Auch wenn er oder sie noch so sehr behauptet, nichts als Frieden zu wollen?

Endgültig?

Nur ein Wort würde ich, bei aller erleichterten Zustimmung, im ersten Satz dieses notwendigen Textes gerne streichen: das „endgültig“. Ich glaube nämlich nicht, dass die Tendenz zur Diffamierung derer, die sich um Verständnis bemühen und zu denen auch ich mich zähle, unumkehrbar ist.

Am Schluss seines Textes, in dem er erklärt, dass es nicht nur möglich, sondern eine politische Notwendigkeit ist, andere Menschen, und gerade „Feinde“, zu verstehen, schreibt zum Glück auch Philipp Sonderegger: „Nach Gutmensch und Opfer wurde nun also auch Versteherin zum Schimpfwort. … In dieser Situation sind Versteherinnen-Versteherinnen gefragt. … Gerade bei den Konflikten in der Ukraine und Gaza ist ihre Stimme zu leise. Auf sozialen Medien, aber auch in der öffentlichen Meinung in Print, Funk und Fernsehen. Es fehlt an Vermittlungs-, nicht an Durchsetzungskraft.“

Wie schön: Auch Philipp Sonderegger meint es also mit seiner anfänglichen Behauptung, die Diffamierung der Versteherinnen sei „endgültig“, nicht gar so ernst. Auf Twitter hat er sogar bekanntgegeben, dass er eine Bewegung für möglich hält, in der Versteherinnen und Versteher einander bestärken und fördern. Und tatsächlich ist schon ein Text Nummer 2 zum Thema erschienen, nämlich einer von Robert Misik hier. Und meiner, dieser hier, den ich gerade schreibe, ist Nummer 3.

Nachdenken über „Interesse“

Mir ist im Urlaub an der nordwalisischen Küste noch ein anderes Wort eingefallen, über das ich nachdenken und mit dem ich an Philipp Sondereggers Initialtext anknüpfen will: das „Interesse“. Kaum ein Fremdwort ist ja im Deutschen so geläufig wie dieses: Wenn zwei „sich füreinander interessieren“, dann ist die Liebe nicht mehr weit. Aber auch: „Interessengruppen“ finden sich zusammen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, Staaten haben mehr oder weniger legitime „Sicherheitsinteressen“, und „interessanterweise“ bedeutet „interest“ im Englischen auch noch „Zins“. Was ist das für ein eigenartig multifunktionales Wort, das kaum noch jemand als fremd empfindet, obwohl es eindeutig lateinisch ist?

Es handelt sich um ein Kompositum aus der Präposition „inter“ und dem Verb „esse“. „Inter“ bedeutet „zwischen“, und „esse“ heißt „sein“. Inter-Esse meint also wörtlich „Dazwischen-Sein“. Für die Liebe leuchtet mir das ein: Da ist oder funkt oder funkelt etwas ZWISCHEN Menschen, es entsteht eine Anziehung – dann eine Beziehung. Hoffentlich bleibt, wenn beide einander immer näher kommen, der fruchtbare Zwischenraum dabei intakt, denn er ist es doch, der die Liebe lebendig hält, oder? Auch wer sich leidenschaftlich für die andere interessiert, wird nie mit ihm identisch. Das DAZWISCHEN bleibt – zu respektieren.

Was aber geschieht dem belebenden Zwischenraum, wenn „Eigeninteressen“ – ein sehr seltsames Wort – sich in den Mittelpunkt drängen? Wenn einer die andere besitzen und kontrollieren will? Wenn es nicht mehr darum geht zuzuhören, zu erklären, sich verständlich zu machen und zu verstehen? Wenn eine Regierung dem Gespräch entsagt und das Eigene gewaltsam, mit Panzern und Bomben durchzusetzen beginnt?

Denkerinnen wie Hannah Arendt oder Luce Irigaray haben das uneinnehmbare DAZWISCHEN in die Nähe dessen gerückt, was Leute wie ich immer noch „Gott“ nennen. Wo also bleibt GOTT, wenn Interessen den letztlich unzerstörbaren Raum dazwischen zu besetzen versuchen? Und könnte ES, GOTT, DIE IMMERWÄHRENDE PRÄSENZ (Ex 3,14) DIE LIEBE (1 Joh 4,8) vielleicht neu beginnen, wenn wir verstehen, dass sich im unverfügbaren DAZWISCHEN entscheidet, ob wir lebendig bleiben? Könnten wir GOTT endlich wieder von „seinem“ Thron holen, wo „er“ seit Jahrhunderten hockt, als sei er ein Herrscher – ja vielleicht ein lieber Boss, aber doch ein Boss, der alles kontrolliert? Könnten wir dem göttlichen DAZWISCHEN wieder Raum schaffen, indem wir geduldig hören, was die ANDEREN zu sagen haben?

Ja ich weiß, das hört sich fromm an. Ich bin halt fromm.

Weiterschreiben

Hier höre ich mal auf zu schreiben. Meine Gedanken über das Inter-Esse werden am kommenden Freitag, 15. August 2014, auch als meine Kolumne Nummer 73 in der österreichischen Wochenzeitschrift „Die Furche“ erscheinen, so ungefähr auf Seite 12. Es geht also weiter mit der wachsenden Bewegung der Versteherinnen-Versteherinnen. Wer schreibt den nächsten Text?

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4 Kommentare

  1. Christoph Jungen

     /  August 12, 2014

    Liebe Ina – dein Text (und der dahinter stehende von Ph. Sonderegger) hat mich schlecht schlafen lassen. Aus einem Doppelgrund: Weil ich einerseits mit vollem „Inter-esse“ zustimme und auch eigene Erfahrungen berührt sehe, in denen ich schon „damals“ etwa Buren und ANC-Kämpfer in Südafrika zu verstehen suchte und (damals hiess das noch nicht so!) Shitstorm erntete.
    Ich denk auch, dass es keinen anderen Weg zu Lösungen als diesen gibt. Alle Schwarz-Weiss-Falken, die je länger je mehr nicht mal versuchen zu verstehen, sondern wenn möglich gleich nach „automatischen“ Urteilen rufen, ohne dass z.Bsp. ein Gericht noch abwägen soll, sind mir zutiefst zuwider.
    Ich mach andererseits aber auch die andere Erfahrung mit mir selbst: Wie das Verstehen und Dazwischen-Sein – Wollen meine intellektualistisch angehauchte Lethargie nährt und tut, als ob mit dem Verstehen oder zumindest Verstehen-Wollen die Sache schon gegessen sei und mein Schweigen und Nicht-Handeln legitimiert.
    Mir sind die „Ihr-müsst-halt-verstehen“ – Entschuldigungen und Menschenverächter ebenso zuwider, manchmal gehört dazu auch die eigene Passivität angesichts von Unrecht, dem ich micht nicht nur „verstehend“ widmen sollte.
    Auch wenn das Urteil über „Übeltäter“ zu Recht dank Verstehen differenzierter ausfallen muss, kann es nicht angehen, z.Bsp. (um nicht in die 30er Jahre zu entfliehen) ISIS bloss „auch etwas“ zu verstehen und keine Handlungsmöglichkeit wahrzunehmen.
    P. Sonderegger hat sicher recht, dass wir mehr Vermittlungs- und weniger Durchsetzungskraft brauchen. Aber das stimmt nur in Bezug auf die Durchsetzung von Exklusivansprüchen. In Bezug auf Recht und Gerechtigkeit, Menschenrechte etc. brauchen wir mehr und nicht weniger gemeinsame Durchsetzungskraft (Etwa des Völkerrechts oder von UNO-Beschlüssen). Da gilt eben Bonhoeffers berühmte Aussage immer noch, dass sich gerade Kirche nicht darauf beschränken kann, Opfer eines Amokfahreres zu pflegen, Wunden zu verbinden und Tote zu beerdigen und Angehörige zu trösten, sondern gerufen ist, „dem Rad in die Speichen zu fallen“, Verständnis hin oder her.

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  2. Lieber Christoph, ja sicher muss auch das Verstehen irgendwann, in einer konkreten Situation, wieder relativiert werden – bis hin zur paradoxen ultima ratio, die Freiheit zum gewaltlosen Verstehen gewaltsam zu schützen. Der Kontext, in dem diese Bewegung #proverstehen entsteht, ist aber ein anderer und er ist durch die ersten Sätze des Blogposts von Philipp Sonderegger klar benannt: es geht hier und jetzt darum, sich dagegen zu wehren, dass das Verstehen zum Schimpfwort wird. Partei ergreifen, ja, das ist auch wichtig, aber erst wenn ich mich redlich bemüht habe, dem oder der Anderen zuzuhören. Insofern, scheint mir, ist das Verstehen primär, das parteiische Handeln sekundär. Wo das Eine ins Andere umschlägt, lässt sich nicht generell, sondern nur situativ entscheiden. Dafür ist Dietrich Bonhoeffer immer noch eines der besten Beispiele. Zur Zeit – und dies ist der Grund, warum ich an Philipp Sonderegger zustimmend anknüpfe – befinden wir uns aber meiner Wahrnehmung nach in einer vor allem medial (auch socialmedial) erzeugten Situation, in der das Verstehen massiv in die Defensive gedrängt wird. Warum? Welche Interessen stecken dahinter? Auch das würde ich sehr gerne genauer verstehen…

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  3. Hat dies auf Walter Friedmann rebloggt und kommentierte:
    Verstehen als Schimpfwort

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  1. Versteherinnen-Versteherinnen - PHSBLOG.AT – Philipp Sonderegger's politischer Blog.

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