Zu Nancy Fraser, Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt, Frankfurt a.M. (Suhrkamp Verlag) 2023, 282 Seiten
WiC-Blogpost Nummer 58
In English
In ihrem neuen Buch entwirft Nancy Fraser eine „ent-orthodoxisierte“ (20) Form der Gesellschafts- und Wirtschaftskritik, die sich nicht auf den von Karl Marx und seinen linken Nachfolger*innen thematisierten Widerspruch zwischen Kapital und Lohnarbeit beschränkt. Ihr Konzept schließt systematisch die Außenbereiche ein, die nicht oder nicht vollständig kapitalistisch organisiert sind, aus denen sich der Kapitalismus aber systematisch nährt: rassifizierte Bevölkerungen innerhalb und außerhalb der industrialisierten Zentren, unbezahlte Sorgearbeit in Privathaushalten, natürliche Prozesse und staatliche Infrastruktur.
Fraser vergleicht den Kapitalismus mit einer „Schlange, die ihren eigenen Schwanz frisst“ (52), einem gierigen Monster, das der unerbittlichen Akkumulationslogik folgend aus verschiedenen Bereichen außerhalb der formalisierten Prozesse der Warenproduktion Leben saugt. Im ersten Kapitel „Allesfresser: Warum wir unser Verständnis von Kapitalismus erweitern müssen“ (17-55) skizziert sie dieses erweiterte Verständnis des Kapitalismus, der für sie „eine institutionalisierte Gesellschaftsordnung“ (44) ist, die „von Zonen der Nicht-Warenförmigkeit ab(hängt), die das Kapital systematisch kannibalisiert.“ (42)
Vier externalisierte Bereiche
In den folgenden vier Kapiteln wendet sie sich den vier ausgelagerten, ausgebeuteten und/oder enteigneten Bereichen zu – rassifizierten Bevölkerungen, der Sorgearbeit, der Natur und der Demokratie – und handelt sie alle nach ein- und demselben Muster ab: Zuerst beschreibt sie den jeweiligen Bereich und erklärt, warum der Vielfraß Kapitalismus sich für ihn interessiert und wie er strukturell verschlingt, was in ihm an Wert produziert wird. Dann wendet sie sich der Geschichte zu und erläutert, wie die verschiedenen Phasen des Kapitalismus – „das merkantil- kapitalistische Regime des 16. bis 18. Jahrhunderts, das liberal-koloniale Regime des 19. Jahrhunderts, das staatlich gelenkte Regime Mitte des 20. Jahrhunderts und das finanzkapitalistische Regime der Gegenwart“ (105) – ihre je eigenen Methoden entwickelt haben, um die in die ökonomische Unsichtbarkeit gedrängten Bereiche außerhalb des eng definierten Produktionsprozesses auszubeuten und/oder zu enteignen. Am Ende erläutert sie die strukturelle Verwandtschaft zwischen den benachbarten Bereichen.
Da die Kapitel überarbeitete Versionen von Vorlesungen zu sein scheinen, weisen sie gewisse Redundanzen auf, insbesondere hinsichtlich der im Einführungskapitel dargelegten Gedankengänge. Das mag für eilige Leser*innen lästig sein, eröffnet aber die praktische Möglichkeit, die Kapitel als separate Texte zu behandeln, etwa in Bildungskontexten, die sicherlich in den kommenden Jahren in fraseristisch geprägten Teilen der Linken entstehen werden.
Ein neu definierter Sozialismus
Im sechsten und letzten Kapitel „Gedankenfutter: Was sollte Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeuten?“ entfaltet Fraser ihre Vorstellung eines zeitgemäßen Sozialismus, der „nicht nur die Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital, sondern auch den Trittbrettfahrergeist bei der unbezahlten Sorgearbeit, der öffentlichen Macht und dem Reichtum, der von rassifizierten Subjekten und der nichtmenschlichen Natur expropriiert wurde, überwindet.“ (226) Diese Wahl des traditionellen linken Zentralbegriffs mag in den USA naheliegend sein, denn dort gibt es eine starke linke Bewegung um bekannte Gestalten wie „Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez (die) das Etikett mit Stolz tragen und (damit I.P.) Unterstützung (finden).“ (141) Ich selbst würde den Rückgriff auf den durch jahrzehntelangen Ge- und Missbrauch missverständlich gewordenen Begriff des Sozialismus eher vermeiden, zumal es bessere Alternativen für die Benennung des Erwünschten gibt, etwa „Care-centered Economy“ (mein eigener Begriff), „Caring Democracy“ (Joan C. Tronto) oder „Ökonomie der Partnerschaft“ (Riane Eisler). Nancy Fraser selbst scheint für terminologische Varianten offen zu sein: „Wenn wir unseren Blick auf den Kapitalismus erweitern, müssen wir auch unsere Vorstellung davon erweitern, was ihn ersetzen könnte. Ob wir sie nun Sozialismus oder irgendwie anders nennen – die von uns angestrebte Alternative … muss (jedenfalls I.P.) das Verhältnis des Systems zu all jenen Formen des Reichtums umgestalten, die es derzeit kannibalisiert.“ (15)
Von vereinzelten Grenzkämpfen zur Gegenhegemonie
Obwohl oder gerade weil ‚Der Allesfresser‘ zum Schematismus neigt – und glücklicherweise nicht gar so ins Detail geht wie Karl Marx‘ ‚Kapital‘ – bietet das Buch uns, den zuweilen orientierungslosen Aktivist*innen in (vermeintlich) getrennten, zuweilen rivalisierenden oder gar zerstrittenen feministischen, postkolonialen, antirassistischen und ökologischen Initiativen, eine solide konstruierte „Analyse, die die Beziehungen zwischen den disparaten sozialen Kämpfen unserer Zeit klärt.“ (18f) Vielleicht wird die Offenlegung der „Hintergrundgeschichte“ (27) des Kapitals den fragmentierten „Grenzkämpfen“ (45-50) helfen, uns als Teile einer größeren Bewegung zu verstehen, uns besser zu organisieren oder sogar die dringend benötigte „Gegenhegemonie“ zu bilden (221), die das Überleben der Menschheit in dieser vielfach bedrohten Welt ermöglichen wird?
Für mich als Aktivistin und Denkerin, die vor allem im Feminismus und postpatriarchalen Denken verwurzelt ist, eröffnet dieses Buch jedenfalls enorme Chancen, neue Allianzen zu schmieden und unsere Zukunft gemeinsam zu gestalten.
